Witten. Er ist einer, zu dem der Rollator eigentlich noch nicht passt. Knut ist gerade mal 59. Aber er hat MS. Zum Glück gibt es noch seinen Mann Ralf.

Der Freitag ist Fischtag im Bistro B an der Breite Straße. Dann kann man dort mittags Knut Niederhagemann und seinen Mann Ralf Erpenbach treffen. Knut, der Jüngere, geht langsam am Rollator, Ralf, der Ältere, pflegt ihn rund um die Uhr. Zwei Schicksalsschläge haben die beiden, die seit 26 Jahren ein Paar sind, noch enger zusammengeschweißt.

An diesem Tag gibt es Heringsstipp mit Pellkartoffeln und danach rote Grütze. Das sind so Momente, die sie besonders genießen. Rausgehen, nicht selbst kochen, sich was gönnen. Auch Ralf (66) kann dann mal durchatmen. „Ich muss Ihnen ja nicht sagen, was es heißt, pflegender Angehöriger zu sein.“ Er tut es aus Liebe zu seinem Partner Knut (59).

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Als der 2001 erfuhr, an Multipler Sklerose (MS) erkrankt zu sein, fragte er Ralf: „Willst du bei mir bleiben? Es kann immer schlechter werden.“ Zu diesem Zeitpunkt waren Knut, der Krankenpfleger, und Ralf, der kaufmännische Angestellte, erst drei Jahre zusammen. Ralf entschied sich für Knut - und blieb, bis heute. Obwohl es noch viel schlimmer kommen sollte, als sie je geahnt hätten.

Bei der MS von Knut handelt es sich um eine Erkrankung, die schleichend kommt. „Es fing mit einer gewissen Gefühllosigkeit im rechten Bein an“, erinnern sich die beiden. „Vorher ist beim Arzt noch gar nichts festgestellt worden.“ Erst die MRT-Untersuchung beim Neurologen sorgte für Klarheit. Knut spricht von einer „Verkalkung im Gehirn“. In den kommenden Jahren sollten ihm die Bewegungen immer schwerer fallen. „Ich spürte eine Taubheit, ein Kribbeln.“

Noch keine 60 und schon am Rollator.
Knut hat seinen Lebenswillen nicht verloren. Zumindest kurze Spaziergänge sind mit dem Rollator möglich. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Doch vieles ging erst noch. Knut konnte noch arbeiten und anfangs auch noch viel besser laufen. „Ich habe sogar noch Square Dance gemacht“, sagt der Endfünfziger mit dem braunen Kinnbart und den kleinen Stickern im Ohr. „Ich konnte auch noch Auto fahren.“ 2010/2011 wurde er dann aber erwerbsunfähig.

Schlaganfall nach Spritzentherapie

Ein Bochumer Professor empfahl Spritzen in die Wirbelsäule. Eine der seltenen Nebenwirkungen traf Knut mit voller Wucht. Er erlitt einen Schlaganfall. Es war frühmorgens, ein Samstag im Jahre 2018. „Er krampfte auf einmal, was nicht zu MS passt“, erinnert sich Ralf. „Da habe ich den Notruf gewählt.“

Die Blutungen waren so stark, dass nicht einmal operiert werden konnte. Knut war rechtsseitig gelähmt und hatte seine Sprache verloren. Zumindest hat er überlebt. „Im schlimmsten Fall hätte seine Schädeldecke aufgemeißelt und abgesaugt werden müssen“, sagt Ralf. „Es ging aber gut.“ Knut bekam den Gerinnungshemmer Heparin.

Wittener bleibt drei Monate in der Reha

Es folgten drei Wochen auf der „Stroke Units“-Station, wo Schlaganfallpatienten behandelt werden, und schließlich drei Monate Reha. „Anfangs kriegte ich kein Wort außer ich, ich, ich raus“, sagt Knut heute. „Ich habe ihn gefüttert und mit ihm Sprechen geübt“, ergänzt Ralf. Gegenseitig hätten sie sich damals vorgelesen. Und Ralf rang um jede Woche, die Knut länger in der Hagener Reha-Klinik bleiben durfte. „Sie wollten ihn nach acht Wochen entlassen, obwohl er noch nicht laufen konnte.“ Heute spricht Ralf, der früher gern gereist ist, von einem „langen Kampf“.

Knut blieb ein Pflegefall, aber er kann verglichen mit damals schon wieder so viel. Langsam sprechen, langsam mit dem Rollator laufen und sich „auf den neuen Garten freuen“. Er geht auch allein zur Toilette. Bis heute bekommt er Physio, Ergo und Logopädie. Gleichzeitig gibt es nichts schönzureden.

„Sehr viel“ sei durch den Schlaganfall verlorengegangen, auch im Gehirn, sagt Ralf, der seinen Mann maximal zwei, drei Stunden allein lassen kann. Gemeint sind vor allem kognitive Störungen. „Er versteht manche Abläufe nicht.“ Knut zieht das rechte Bein hinterher, isst mit links, das Sehvermögen ist eingeschränkt, und alles braucht seine Zeit. „Runter zum Hof, über eine kleine Terrasse, das ist manchmal ein halber Tagesausflug“, sagt Ralf.

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Freitags besuchen Knut Niederhagemann (re.) und sein Mann Ralf das Bistro B in Witten, weil es dann Fisch gibt.
Freitags besuchen Knut Niederhagemann (re.) und sein Mann Ralf das Bistro B in Witten, weil es dann Fisch gibt. © Jürgen Augstein | Jürgen Augstein

Der Schlaganfall, er hat Knuts ohnehin geschwächte rechte Seite noch einmal zusätzlich geschädigt. „Manchmal wissen wir gar nicht, was kommt vom Schlaganfall, was von der MS.“ Aber sie haben sich und und ihre Liebe. Das schwule Paar verbringt viel Zeit zuhause in Heven. Sie spielen Triominos - ein Brettspiel mit Zahlen - oder hören Musik. „Ich bin dankbar für meinen Lebenspartner“, sagt Knut, der bei diesem Satz regelrecht strahlt. Sie haben Freunde und eine „sehr gute Hausgemeinschaft“. 2011 ließen sich die beiden als Lebensgemeinschaft eintragen. Und wenn Ralf mal nur was für sich machen möchte, geht er mit ehemaligen Kollegen frühstücken.

Ralf ist mit 60 vorzeitig aus dem Job ausgestiegen, um sich ganz um Knut zu kümmern, der sonst nach dem Schlaganfall ins Heim gemusst hätte. „Jemanden 24/7 pflegen und voll arbeiten gehen, das funktioniert nicht“, sagt Ralf. Im Laufe der Jahre habe er das mit der Pflege gut in den Griff gekriegt. Mehr Angst hat er davor, „keine Medikamente mehr zu bekommen“. Manchmal rufe er sogar bei den Herstellern selbst an.

Das Mittagessen im Bistro B ist inzwischen vorbei, jetzt ist Zeit für Kaffee und Dessert. Wie er sich heute fühle, fragt der Reporter Knut zum Abschied. „Gut, sehr gut“, sagt der. „Und jetzt freue ich mich auf meinen Nachtisch.“