Witten. Wenn Ursula erzählt, was ihr mit 47 Jahren passiert ist, röten sich schon mal die Augen der Wahl-Wittenerin. Ein Schlaganfall änderte ihr Leben.
- Gäste dachten, sie macht ein Nickerchen: Es war ein Schlaganfall
- Erst nach zwei Stunden kam „Ursa“ ins Krankenhaus
- Heute ist sie dankbar für ihr selbst bestimmtes Leben in Witten
„Ursa“ heißt eigentlich Ursula Niggemeier. Sie trägt einen modischen grauen Kurzhaarschnitt, eine flotte Brille, einen schönen lila-grünen Schal zur braunen Wollstrickjacke. „Ich achte auf mich“, sagt die 56-Jährige aus Witten. Sie hat ein Schicksal hinter sich, das erzählt werden will. Ursa wurde mit 47 mitten aus dem Leben gerissen. Schlaganfall.
Eigentlich hatte sie damals, an jenem 8. November 2016, Gäste zu Kaffee und Kuchen erwartet. „Ich hatte schon den Tisch schön gedeckt“, sagt die Mittfünfzigerin, die nie geraucht hat, sportlich war und heute halbseitig gelähmt im Elektrorollstuhl sitzt. Dann bekam sie an jenem Nachmittag diese starken Kopfschmerzen. Der Arm verkrampfte sich, „ich konnte mich nicht mehr aufrichten“. Die gelernte Krankenschwester hatte auf dem Sofa gesessen. „Ich dachte sofort an einen Schlaganfall.“ Doch bis sie ins Krankenhaus kam, vergingen zwei quälend lange Stunden.
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Tatsächlich trudelten die Gäste noch ein und „haben seelenruhig Kuchen gegessen“. Ursa lag auf dem Sofa, „die dachten wohl, ich mach ein Nickerchen“. Ihre Tochter habe sie schließlich gefunden und ihr damaliger Mann sie gefragt, ob er einen Krankenwagen rufen solle. „Danach konnte ich ein halbes Jahr nicht mehr sprechen“, sagt Ursula Niggemeier, die zunächst einige Tage in ein künstliches Koma versetzt wurde.
Dreimal wurde die Wahl-Wittenerin am Kopf operiert
Sie wurde dreimal am Kopf operiert, „um den Druck zu verringern“. Den Klinikaufenthalten folgten eine Reha und schließlich ein zweijähriger Altenheimaufenthalt in Herne, wo „Ursa“, wie sie ihre Freundinnen und Freunde nennen, damals lebte. „Ich wusste ja nicht wohin und meine Familie war überfordert.“ Von einem Tag auf den anderen war sie ein Pflegefall geworden und die Prognose der Ärzte war schlecht.
Deshalb nennt es Ursula Niggemeier heute einen „Glücksfall“, dass sie drei Jahre nach ihrem Schlaganfall nach Witten kam, wo ihr Bruder lebt, und eine barrierefreie Wohnung der Bethel-Stiftung an der Breite Straße beziehen konnte. „Ich bin dankbar, hier zu sein“, sagt die Frau, die auch noch ausgebildete Psychotherapeutin ist.
Die Bethel-Stiftung in Witten war für sie ein Glücksfall
„Intensivbetreutes Wohnen“ nennt sich das, spezialisiert auf Menschen mit einer erworbenen Hirnschädigung wie nach Schlaganfällen oder schweren Stürzen. Der Umzug nach Witten bedeutete für Ursa „nach ein paar Schicksalsjahren“, wie sie es selbst nennt, dass es wieder langsam bergauf ging.
Heute lebt sie allein und „selbst bestimmt“ in ihrer barrierefreien Wohnung im ersten Stock, hat einen Balkon, kann sich selbst an- und ausziehen, nur zum Duschen kommt ein Pflegedienst. Tagsüber ist eine Betreuung im Haus. Das Leben, sagt Usa, sei anstrengend geworden. „Ich musste ja alles neu lernen: Einkaufen, die Sachen aufs Band legen, bezahlen, sitzen, anziehen, alles.“ Die Ärzte hatten ihr noch prophezeit, niemals allein leben zu können. Als Ursache für den plötzlichen Schicksalsschlag wird eine erbliche Gerinnungsstörung vermutet.
Inzwischen geht es auch wieder mit einer Freundin in den Urlaub
Inzwischen benutzt Ursa, wenn auch in Begleitung, wieder öffentliche Verkehrsmittel und fährt mit einer Freundin in Urlaub, „Sylt, Norderney.“ Zum Mittagessen kommt sie manchmal von ihrer Wohnung ins nahe gelegene Altenheim-Bistro B, wo es an diesem Freitag Bunthechtfilet gibt. Das Kochen zuhause fällt ihr schwer, „Nudeln gehen.“
Ursa stand früher voll im Leben. Sie sang und tanzte, trieb viel Sport, hatte jede Menge Freunde - und all das neben ihrem Beruf und der Familie. Der Schlaganfall änderte alles. Vor zwei Jahren ist sie dann auch noch gestürzt und brach sich mehrere Wirbel. Das schränkte ihren ohnehin knappen Bewegungsradius noch mal zusätzlich ein. Trotzdem hat sich Ursula Niggemeier nicht aufgegeben. „Ich bin extrem ehrgeizig.“
Mit dem Liegefahrrad unterwegs
Sie fährt, begleitet von einer Ergotherapeutin, Liegefahrrad auf dem Rheinischen Esel oder dem Ruhrtalradweg, ist also gern in der Natur, berät andere Behinderte beim Paritätischen Wohlfahrtsverband - und am liebsten zeichnet sie. „Aktuell 25 Weihnachtskarten.“ Da muss man früh anfangen.
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Ihr Mann hatte sich nach dem Schlaganfall nach über 20 Jahren Ehe von ihr getrennt, der erwachsene Sohn lebt in Heidelberg, die Tochter in Essen. Ja, natürlich sei sie manchmal einsam und traurig. Aber sind wir Gesunden das nicht auch? Ursula Niggemeier scheint mit ihrem Schicksal nicht zu hadern. „Ich bin heute dankbar dafür, dass ich lebe.“
Auf der Suche nach einem neuen Hund
Nur eins vermisst sie wirklich, ihre Hündin Tessa, die nach elf Jahren gestorben ist. „Ursa“ sucht nun einen neuen treuen Begleiter, merkt aber, dass das als Behinderte gar nicht so leicht ist. „Im Tierheim habe ich das Gefühl, die trauen es mir nicht zu, dass ich es mit einem Hund wuppen würde.“ Intelligent und lernwillig müsse das Tier sein, „nur kein Welpe“.
Sie würde gern in ihren Beruf zurückkehren, doch das sei aufgrund ihrer Sprachstörungen unrealistisch. Zum Abschied zeigt Ursula Niggemeier dem Reporter eine Karte, die sie mit Aquarellfarben zum 30. Geburtstag ihrer Tochter gemalt hat: Eine Hand legt sich beschützend über das Kind, das zur Erwachsenen wird. Der Regenschirm, den sie in der Hand hält, bedeutet: „Sie kann sich jetzt selber helfen.“
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