Herne. Die Fußball-EM ist vorbei, der Herner Streit über Rassismus-Vorwürfe sowie „Provokationen“ deutscher Fans gegenüber türkischen Anhängern nicht.

Die Fußball-EM in Deutschland ist Geschichte, der Streit um die Facebook-Posts des Herner Integrationsratsvorsitzenden und Sozialdemokraten Ibrahim Baltaci hallt noch nach. Aus der hochemotionalen Diskussion in den sozialen Medien über Rassismus und das Verhalten von Fans ist im Netz zunächst eine Debatte über Integration entstanden, die dann eine parteipolitische Ebene durch die indirekte Rücktrittsforderung der Jungen Union erhielt. Am Ende ging es eigentlich (fast) nur noch um Turbulenzen innerhalb der Herner SPD. Eine Bestandsaufnahme.

Der Sozialdemokrat Ibrahim Baltaci ist 2020 für die SPD-nahe Gruppierung MHB (Migranten Bündnis Herne) zum Vorsitzenden des Integrationsrats gewählt worden.
Der Sozialdemokrat Ibrahim Baltaci ist 2020 für die SPD-nahe Gruppierung MHB (Migranten Bündnis Herne) zum Vorsitzenden des Integrationsrats gewählt worden. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Der Auslöser

Als begeisterter Fußball-Fan postete Ibrahim Baltaci auf seiner Facebook-Seite seit dem EM-Start regelmäßig kurze Kommentare vor allem zu deutschen und türkischen Spielen. Vor dem Viertelfinalspiel Türkei gegen die Niederlande wurden die Beiträge sehr emotional und anklagend. Der Integrationsratsvorsitzende beklagte sich über die „spürbare und sichtbare Doppelmoral“ deutscher Fans, die auf „provokante Art“ und undemokratische Weise die Niederlande unterstützten. Das gehöre sich nicht und sei „unterste Schublade“. Die „traditionelle Freundschaft“ mit Türken werde dadurch „von vielen verspielt“.

Die Debatte spitzte sich zu durch einen - inzwischen offenbar gelöschter - Beitrag eines Wanner Sozialdemokraten (kein Mandatsträger). Er schrieb etwas über „deutsches Blut“ und erhielt dafür auch von einigen Herner Genossen ein Like. Baltaci schäumte auf Facebook. „Die Rassisten werden morgen aus meiner Freundschaftsliste ausgeschlossen ...“, kündigte er an, setzte dies aber anschließend nicht um. Und auch dieser Post des 40-Jährigen dürfte als (indirekte) Drohung insbesondere an seine Partei zu verstehen sein: „Ach ja, und nur mal so nebenbei, nächstes Jahr sind Kommunalwahlen und circa 50 Prozent in diesem Wahlbezirk sind Menschen, die gegenwärtig provoziert werden“.

Die Integrationsdebatte

Aus dem Konflikt entwickelte sich - wie in sozialen Medien nicht unüblich - eine breite Debatte. Zahlreiche Deutsch-Türken pflichteten Baltaci bei. Ein für diese Haltung charakteristischer Kommentar: „Ganz einfach, viele Masken sind gefallen. Von wegen Integration, die wollen uns nicht und die wollten uns nie. Egal, was wir tun und machen.“ Einige (dem Namen nach) „biodeutsche“ Kommentatoren hielten dagegen. Es sei auf beiden Seiten Porzellan zerschlagen worden, hieß es in einem Beitrag. Und ein anderer Kommentar erklärte, dass die „gewisse Schadenfreude“ deutscher Fans auch auf den „Wolfsgruß“ zurückzuführen sei. Diese mit der Hand geformte Gruß gilt als Zeichen der rechtsextremistischen Grauen Wölfe (auch: Ülkücü-Bewegung; die MHP ist der politische Arm). Anders als in Österreich ist dieses Symbol in Deutschland nicht verboten.

Der türkische Spieler Merih Demiral löste die Debatte mit seinem „Wolfsgruß“ im Spiel gegen Österreich aus. Von der Uefa wurde er daraufhin für zwei Spiele gesperrt.
Der türkische Spieler Merih Demiral löste die Debatte mit seinem „Wolfsgruß“ im Spiel gegen Österreich aus. Von der Uefa wurde er daraufhin für zwei Spiele gesperrt. © dpa | Hendrik Schmidt

Zu diesem und anderen Hinweisen auf den zunächst vom türkischen Spieler Merih Demiral im Achtelfinale auf dem Platz und anschließend von tausenden Türkei-Fans in Deutschland gezeigten „Wolfsgruß“ ging Baltaci auf Facebook einmal ausweichend und anschließend gar nicht ein. Für einige überraschend relativierte Tuncay Nazik von der Islamischen Gemeinde Röhlinghausen auf Anfrage der WAZ das Zeigen des „Wolfsgrußes“. Diese Geste stehe nicht automatisch für eine rechtsextreme Gesinnung, so eine seiner Botschaften.

Die (indirekte) Rücktrittsforderung

Die Junge Union (JU) reagierte auf Baltacis Facebook-Posts und die WAZ-Berichterstattung mit einer zwischen den Zeilen formulierten Rücktrittsforderung. „Ist der Integrationsratsvorsitzende noch der richtige für dieses Amt?“, lautete die Überschrift der Pressemitteilung des CDU-Nachwuchses. JU-Chef Jascha Hoppe bezeichnete Baltaci als „schlechten Verlierer“ und hob unter anderem zwei Punkte hervor: einen Baltaci-Post mit dem Vorwurf der „Lügenpresse“ und seinen Umgang mit den Grauen Wölfen.

„Schlechter Verlierer“: Jascha Hoppe und die Junge Union attackieren den Integrationsratsvorsitzenden Ibrahim Baltaci.
„Schlechter Verlierer“: Jascha Hoppe und die Junge Union attackieren den Integrationsratsvorsitzenden Ibrahim Baltaci. © FUNKE Foto Services | Alexa Kuszlik

Es sei „ein starkes Stück“, dass Baltaci als Sozialdemokrat von Lügenpresse spreche und so einen Begriff nutze, der durch die NS-Zeit geprägt worden sei, so Hoppe. Damit schiebe sich der Integrationsratsvorsitzende selbst sehr nahe an die Haltung der Grauen Wölfe, die er „ebenfalls verharmlost“. In einer kurzen Sprachnachricht an die WAZ bestritt Baltaci, einen Beitrag mit dem Vorwurf der „Lügenpresse“ gepostet zu haben. Er habe auch keine Posts auf seiner Seite gelöscht. Die Junge Union hat besagten Facebook-Post als Screenshot gesichert und der WAZ übermittelt. Aus diesem an die türkisch-deutsche Community gerichteten Beitrag geht allerdings der Zusammenhang des „Lügenpresse“-Vorwurfs nicht eindeutig hervor.

Das Krisenmanagement der SPD

Auf Vermittlung des Stadtverordneten Roberto Gentilini fand in der SPD ein „Schlichtungsgespräch“ mit Baltaci statt, an dem unter anderem SPD-Fraktions-Chef Udo Sobieski und Integrationsratsmitglied Saudin Cizmic (ebenfalls SPD) teilnahm. Nach dem Treffen veröffentlichte die SPD-Ratsfraktion eine Pressemitteilung. Die Überschrift lautet „Streitigkeiten nach öffentlicher Rassismusdebatte beigelegt“. Die Mitteilung besteht aus einem kurzen Zitat des SPD-Fraktionsvorsitzenden Udo Sobieski: „Wir haben in einem intensiven Austausch mit den Beteiligten die Missverständnisse ausräumen können, die zu einer überhöhten öffentlichen Rassismusdebatte führten. Ein Schlichtungsgespräch zwischen den Beteiligten sowie der SPD-Fraktion und dem Vorstand des Integrationsrates hat stattgefunden. Die Parteien konnten sich auf sachlicher Ebene austauschen und den Rassismusvorwurf aus der Welt schaffen. Beide Parteien haben sich die Hand gereicht und sich vereinbart. Wir freuen uns, dass wir innerhalb unserer Fraktion immer auf demokratischem Wege Konsens erzielen können.“

Nicht Hernes Parteichef Hendrik Bollmann, sondern Ratsfraktionsvorsitzender Udo Sobieski führte das „Schlichtungsgespräch“ in der SPD mit dem Genossen Ibrahim Baltaci.
Nicht Hernes Parteichef Hendrik Bollmann, sondern Ratsfraktionsvorsitzender Udo Sobieski führte das „Schlichtungsgespräch“ in der SPD mit dem Genossen Ibrahim Baltaci. © FUNKE Foto Services | Pollklaesener

In der SPD werden hinter vorgehaltener Hand jedoch auch ganz andere Stimmen laut. Ibrahim Baltaci habe mit seinen Facebook-Beiträgen viel Porzellan zerschlagen, so war zu hören. Und: Dieser Vorgang werde ihm politisch schaden. Den Rassismus-Vorwurf gegen einen Wanner Genossen wegen des „deutsches Blut“-Beitrags hielt keiner der von der WAZ darauf angesprochenen Sozialdemokraten für berechtigt. Dieser Kommentar sei in Zusammenhang mit der niederländischen Nationalhymne gefallen, so die Erklärung. Darin heißt es wörtlich (in deutscher Übersetzung) „Wilhelm von Nassau, ich bin von deutschem Blut“.

Auch Parteichef Hendrik Bollmann teilt den Vorwurf Baltacis nicht. „Der Post, um den es eigentlich geht, ist nicht rassistisch“, sagte er auf Anfrage. Kritik übte er derweil an der Stellungnahme der Jungen Union, bei der sich ihm „Sinn und Zweck nicht erschließt“. Der CDU-Nachwuchs und auch alle Kommentatoren des Vorgangs sollten sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein. „Diese Zeit ist ohnehin schon reich an emotionalen Debatten. Da sollten alle mal die nun fußballfreie Zeit zum Durchatmen nutzen“, so Bollmann.

Hendrik Bollmann ist SPD-Vorsitzender in Herne. 2025 will er für seine Partei in den Bundestag einziehen.
Hendrik Bollmann ist SPD-Vorsitzender in Herne. 2025 will er für seine Partei in den Bundestag einziehen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Das Schweigen des Integrationsratsvorsitzenden

Die WAZ hat mehrfach vergeblich versucht, von Ibrahim Baltaci über eine allgemeine Stellungnahme hinaus konkrete Antworten zu erhalten. Ein verabredetes Telefonat brach er aufgrund eines Funklochs ab und bat darum, dass ihm die Fragen schriftlich übermittelt werden. Dem kam die WAZ umgehend nach und legte ihm eine Liste mit zehn zum Teil umfangreichen Fragen vor. Diese zielen unter anderem auf die Facebook-Reaktionen, den Beitrag zum „deutschen Blut“, die SPD, die Grauen Wölfe und ihre Präsenz in Herne, den „Lügenpresse“-Vorwurf und die Pressemitteilung der Jungen Union.

Baltaci sagte die Beantwortung zunächst zu, bat dann allerdings unter Verweis auf das anstehende „Schlichtungsgespräch“ innerhalb der SPD um Aufschub. Danach werde er sich „abschließend“ äußern. Die WAZ betonte, dass die Fragen auch unabhängig von dem Gespräch Bestand hätten und bat um eine zeitnahe Beantwortung. Das sagte Baltaci zuletzt am Dienstag, 16. Juli, (ein Tag nach dem „Schlichtungsgespräch“) zu. Seitdem nahm er - mit Ausnahme der kurzen Sprachnachricht zur „Lügenpresse“ - weder schriftlich noch mündlich Stellung.