Gladbeck. Im K4 in Gladbeck büffeln Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Deutsch. Der Unterricht ist für die Gruppen aus mehreren Gründen wichtig.

Deutsch ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln – noch, denn die ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die sich in Gladbeckin Sicherheit bringen konnten, büffeln im Sozialen Zentrum K4 fleißig, damit ihnen die Sprache ihres derzeitigen Wohnortes nicht mehr lange spanisch vorkommt. Aus gutem Grund, wie es die 24-jährige Zhanna, die bis vor kurzem in Kiew zuhause war, auf den Punkt bringt: „Wie kann man hier leben, ohne Deutsch zu können?“

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Diesen Satz formuliert sie bereits in der für viele der Neuankömmlinge fremden Sprache. Zhanna hat es etwas leichter als die anderen in ihrer Gruppe: „Ich habe eine Weile in Österreich gewohnt.“ Außerdem, so erzählt die Marketingmanagerin, habe sie früher als Kind immer wieder die Oma besucht – und die sei Deutschlehrerin gewesen. Dennoch gehen der 24-Jährigen so manche Formulierungen nicht leicht über die Lippen.

Alle in der Gladbecker Klasse teilen erschütternde Erfahrungen

Deutsche Sprache – schwere Sprache: Dieses geflügelte Wort würden wohl alle im K4-Klassenzimmer unterschreiben. Kasus Knacktus: die Fälle. „Die bereiten Schwierigkeiten, denn Akkusativ und Dativ gibt es im Ukrainischen nicht“, gibt Zhanna zu verstehen. Aber diese Besonderheit macht die Gruppe keinesfalls sprachlos. Munter versuchen sie zu parlieren, antworten radebrechend auf Marc Feilens Fragen.

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Marc Feilen vermittelt ukrainischen Flüchtlingen praxisorientiert und alltagstauglich Kenntnisse der deutschen Sprache.
Marc Feilen vermittelt ukrainischen Flüchtlingen praxisorientiert und alltagstauglich Kenntnisse der deutschen Sprache. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Er unterrichtet diese Gruppe. Natalia, Tanja, Olga, Ira und die anderen. Ein Mann ist auch darunter, einer der wenigen, denen erlaubt wurde, die Ukraine zu verlassen. Zhanna erklärt: „Männer bis 65 Jahre müssen im Land bleiben.“ Marc Feilen will von Aleksandr wissen: „Isst Du gerne Schokolade?“ Ein Strahlen breitet sich über das Gesicht des Schülers aus. Er bekennt stolz: „Ich liebe Schokolade essen!“ Alles klar!

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Weniger eindeutig ist Tatjanas Antwort. Die 47-jährige, kurz Tania genannt, würde gerne „zwei Stücke schwarze Schokolade“ kaufen. Feilen korrigiert: „Zwei Tafeln.“ Und staunt nicht schlecht über den Nachsatz seiner Schülerin: „Und Blumenschokolade!“ Ah, ja… Was mag das denn sein? Auch ein Pädagoge lernt immer dazu: Es handelt sich um Milchschokolade, die auf dem Einkaufszettel stehen soll.

Aleksandr (2.v.l.) ist der einzige Mann unter den ukrainischen Flüchtlingen in diesem Deutschkurs, der im Gladbecker K4 läuft.
Aleksandr (2.v.l.) ist der einzige Mann unter den ukrainischen Flüchtlingen in diesem Deutschkurs, der im Gladbecker K4 läuft. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Feilen und Co. liegt es am Herzen, dass sich die ukrainischen Flüchtlingeim deutschen Alltag zurechtfinden, also steht in dieser Unterrichtsstunde das Einkaufen auf dem Lehrplan. Dazu hat der Lehrer einen Prospekt mitgebracht, dessen Inserate er immer wieder hochhält. Was ist hier abgebildet? – „Ein Waschtrockner! Er kostet 399 Euro.“ Feilen fragt: „Ist das teuer oder billig?“ Einstimmig schallt es aus allen Kehlen: „Teuer!“ Hm, der Lehrer verweist auf den früheren Preis für das Gerät, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. „Was hat das Teil vorher gekostet? Ist das hier ein Angebot?“ Jemand aus der Gruppe sagt: „Es hat 889 Euro gekostet!“ Man mag es kaum glauben: Was würde die Kundschaft in der Ukraine zu diesem Preis wohl sagen?

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Deutsche Sprache – schwere Sprache: Dieses geflügelte Wort würde wohl alle Klasse mit ukrainischen Flüchtlingen unterschreiben. Umso überraschender ist es, wie schnell die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Vokabeln, Grammatik und Aussprache lernen.
Deutsche Sprache – schwere Sprache: Dieses geflügelte Wort würde wohl alle Klasse mit ukrainischen Flüchtlingen unterschreiben. Umso überraschender ist es, wie schnell die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Vokabeln, Grammatik und Aussprache lernen. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Tatjana, die gute Laune versprüht, würde gerne Whisky kaufen. Alle lachen. Der Tropfen ist allerdings nicht im Prospekt zu finden. Also wendet sich die Gruppe einem Staubsauger zu. Marc Feilen empfiehlt seinen Schützlingen: Geht selbst einmal in Geschäften gucken! Auf diesem Wege können sich die Flüchtlinge eigenständig und praxisnah Vokabeln aneignen. Schließlich sollen und müssen die Deutschkenntnisse alltagstauglich sein, darauf kommt es allen Beteiligten an.

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Zur Übung gibt’s eine Vorstellungsrunde. Da sitzt die 47-jährige Dermatologin aus Irpin, die so gerne radelt und reist – nach Ägypten, Spanien, Italien, Österreich, Griechenland; Olga ist ebenfalls gerne in der Weltgeschichte unterwegs, war schon in Israel, Sri Lanka und anderen Ländern; Natalia aus Kiew: 27 Jahre, Lehrerin, verheiratet, Mutter der Söhne Kirill und Nikita. Feilen klatscht rhythmisch Silbe für Silbe in die Hände. Handelt es sich um eine Frau, wird ein -in angehängt – also heißt es zum Beispiel auch Buchhalterin. Er lobt seine Klasse: „Ihr seid alle gut!“

Weitere Kurse sind geplant

Der Deutschunterricht für ukrainische Flüchtlinge, den Freiwillige im K4 an der Kirchstraße stemmen, ist im April angelaufen. Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup, Pfarrerin im Ruhestand und aktiv in der Evangelischen Flüchtlingshilfe Gladbeck, kündigt an: „Wir wollen zu den vier Kursen, die wir schon haben, noch zwei weitere einrichten.“

Zweimal wöchentlich erhalten die Kriegsflüchtlinge Deutschunterricht. Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup berichtet: „Mal sind es 14 Personen, die einen Kurs besuchen, mal elf.“ Insgesamt elf ehrenamtliche Kräfte übernehmen den Unterricht. Bei zwei Angeboten ist eine Kinderbetreuung gegeben. Andere Angebote, beispielsweise an der Volkshochschule, beginnen erst im Sommer.

„Oliver Jäger, Inhaber der Humboldt-Buchhandlung, hat das Unterrichtsmaterial gesponsert“, so Hildebrandt-Junge-Wentrup. Und nicht nur das: „Er unterrichtet auch als Aushilfslehrer.“

Wer die Arbeit für Flüchtlinge aus der Ukraine unterstützen möchte, kann sich wenden an: das Sozial-pastorale Zentrum der Propsteipfarrei St. Lamberti (K4), Kirchstraße 6, unter der Telefonnummer 0 20 43/4 02 78 36; oder an Reile Hildebrandt-Junge-Wentrup unter der Rufnummer 01 76/32 43 91 25.

Erstaunlich, wie schnell die Gruppe lernt und mit welchem Eifer alle bei der Sache sind. Auch wenn manche Begriffe und die Grammatik noch böhmische Dörfer sind: Mit gelöster Zunge wollen die Neuankömmlinge ihr frisches Wissen anbringen. Elke Lenz, die ebenfalls Kurse für ukrainische Flüchtlinge gibt, stellt fest: „Wir erleben alle sehr offen. Es herrscht eine positive Stimmung.“ Die Klasse scherzt, applaudiert, wenn jemandem ein Satz gut gelungen ist. Das Alter, so Lenz, spielt überhaupt keine Rolle. Die frühere Erzieherin erzählt: „Wir haben hier auch eine ältere Dame mit 70, die total gut lernt.“

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Der Deutschunterricht vermittelt nicht nur die Sprache, sondern knüpft Kontakte, schweißt zusammen. Sie alle, die hier Stuhl neben Stuhl am Tisch mit den Namensschildchen sitzen, haben ein Schicksal, das sie verbindet: die Heimat und ihr bisheriges Leben verloren, Verwandte als Soldaten an der Front, eine unsichere Zukunft, Gefühlschaos. Zhanna: „Manche Leute hier haben keinen Platz mehr, an den sie zurückkehren können.“ Daher, eben auch wegen der Gemeinsamkeiten: „Die Deutschkurse sind sehr wichtig!“

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