Bottrop/Gelsenkirchen. Wegen seiner Autismus-Spektrum-Störung spricht Noah nicht. Die Familie erzählt, welchen wertvollen Beitrag sein Schulbegleiter Michael leistet.
Noah hat eine Autismus-Spektrum-Störung und ist nonverbal: Das heißt, der 18-Jährige spricht nicht. Zu verstehen, was er braucht, fällt besonders Außenstehenden schwer. Seine Familie erzählt, wie ein Schulbegleiter hilft, den gemeinsamen Alltag zu bewältigen und Noah Bildung zugänglich macht.
Noah ist auf Hilfe angewiesen: Pflegerischer Aspekt bei der Schulbegleitung
„Noah war jahrelang inkontinent. Er hatte Probleme, mundgerechte Stücke eigenständig zu essen“, erzählt seine Mutter Vanessa Klug, um zu verdeutlichen: Dieser junge Mann ist zwar „körperlich normal entwickelt“, wie es ihr Mann Jan Klug beschreibt, doch er ist auf Hilfe angewiesen. Vanessa Klug sagt, Anziehen sei immer noch ein großes Problem: „Eine Socke klappt vielleicht mal.“ Noahs Vater ergänzt zögerlich: „Ausziehen geht.“ Die Gesamtsituation habe sich durch den Integrationshelfer, meist „I-Helfer“ abgekürzt, gebessert, sind sich die Eltern einig und zeigen sich dankbar.
Ohne Integrationshelfer war Noah „nicht beschulbar und total isoliert“
„Von heute auf morgen war Noah nicht mehr beschulbar und total isoliert“, beschreibt seine Mutter die Situation, als ein I-Helfer wegfiel. Überall hieß es, ein Kind, das Windeln braucht, können wir nicht begleiten. „Wir sind vor viele Türen gelaufen.“ Bei ihrem Sohn komme zum sozialen Teil der Arbeit noch ein pflegerischer Aspekt. „Man hat das Gefühl, auf alles, was über den Standard hinausgeht, sind die Schulen nicht vorbereitet“, fasst es Jan Klug zusammen. Noahs Eltern wollen jedoch betonen, dass sich in den Schulen „einzelne Mitarbeiter sehr engagiert“ gezeigt hätten.
Weil sie verzweifelt nach passender Betreuung suchten, wandten sich Noahs Eltern für einen Aufruf an Radio Emscher Lippe. Mit Glück, denn hier kommen Björn Thannbauer und sein Team ins Spiel. Thannbauer ist Berater für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung und Geschäftsführer des Unternehmens „Thannbauer Soziale Dienstleistungen“ in Bottrop. Über den Aufruf entsteht der Kontakt zum Team aus Beratern, Erziehern und Quereinsteigern.
„Man würde Geld sparen, wenn die Hilfen früher kämen“
Allen drei ist wichtig: Die Qualifikation auf dem Papier ist eher nebensächlich, es geht mehr um Fähigkeiten wie Empathie und den Draht zueinander. Ein Quereinsteiger, der eigentlich als Maurer gearbeitet hat, könne einen guten Job machen, wenn die Empathie stimme, so Thannbauer. Schulbegleiter seien das „Ventil für Impulse und zugleich ein Anker. Die Kinder und Jugendlichen müssen Sicherheit erfahren.“
Die Betreuung von Menschen wie Noah sei zwar teuer, doch „man würde Geld sparen, wenn die Hilfen früher kämen. Folgehelfer und Therapien, die bei im Stich gelassenen Familien nötig wären, würden dann später wegfallen“, so Thannbauer. Eine ordentliche und rechtzeitige Betreuung helfe, Betroffenen eine Perspektive zu geben. Bei leichterem Autismus gelinge dann der Sprung in den Arbeitsmarkt: „Je früher die Hilfe kommt, desto günstiger ist sie.“
Für Fremde ist der Umgang überfordernd: Noah „verhält sich manchmal wie ein Fünfjähriger“
„Noah ist fröhlich und lacht viel. Wenn schlechte Stimmung in der Klasse ist, lacht er los und alle lachen mit. Aber er kann auch schwierig sein. Beruhigendes Zureden heizt ihn dann weiter an. Er sah lange sehr kindlich aus, mit einem sehr kindlichen Gesicht“, beschreibt Jan Klug seinen Sohn. Da falle es vielen schwer, Nein zu sagen oder Grenzen zu ziehen. Hinzu komme: „Er verhält sich manchmal wie ein Fünfjähriger. Aber es ist ein Unterschied, ob sich jetzt ein Fünfjähriger so verhält oder ein 18-Jähriger.“
Björn Thannbauer sagt: „Man vertraut einem Fremden seinen größten Schatz an, das braucht eine Vertrauensbasis.“ Noah könne zwar nicht mit Worten ausdrücken, was in ihm vorgeht, doch „er merkt, was ihm guttut und was nicht“.
In Noahs Schwerbehindertenausweis steht unter anderem ein H für Hilflosigkeit. „Das heißt, er braucht jemanden, der guckt, dass der nicht aus dem Fenster klettert“, erklärt Vanessa Klug. „Es ist ein anspruchsvoller Beruf. Man muss sich bei selbst- oder fremdverletzendem Verhalten selbst schützen können.“ Das Verhalten treffe nicht auf Noah zu, komme in diesem Beruf aber durchaus vor, so Thannbauer.
Bilder auf dem Tablet: So spricht Noah mit einem „Talker“
Zu Hause nutze Noah oft die Hände anderer als Werkzeug, um auf etwas zu zeigen und so seine Bedürfnisse zu kommunizieren. „Er führt uns zum Kühlschrank, legt die Hand auf den Griff und wenn man ihn öffnet, zeigt er auf den Pudding. Die Methode hat er sich selbst erarbeitet, aber das hat natürlich Grenzen“, erzählt Jan Klug. Vanessa Klug bringt ein Beispiel aus seiner Kindheit: „Mit sechs Jahren wäre er noch vor der vollen Wasserflasche verdurstet, wenn man ihm nichts zu trinken angeboten hätte. Das ist viel Verantwortung.“
In der Schule greife der 18-Jährige gerne auf einen „Talker“ zurück: Ein Tablet, das Fotos zeigt und den Begriff vorliest, sobald man ihn antippt. Die Talker, eine Form der unterstützten Kommunikation, lassen sich individuell anpassen: Noahs Schulbegleiter Michael hat Fotos für ihn aufgenommen: wichtige Stationen, die er mag oder eben nicht. „Er gibt sich Mühe, ihm ein großes Spektrum an die Hand zu geben“, sagt Vanessa Klug. Noahs Talker zeigt Bilder von „Mamas Auto“, Noahs „Ball“ oder „Trinken“. Die Nutzung des Tablets habe er mit seinem I-Helfer Michael erarbeitet. Über einen Button können Angehörige Dinge einsprechen, um den Betroffenen vorzustellen oder vom Wochenende zu berichten.
„Je früher sie das lernen, desto einfacher ist es für die Nutzer“, sagt Noahs Mutter über die Talker. Thannbauer erklärt: „Je mehr Symbole dazukommen, desto kleiner werden sie und desto schwieriger die Handhabung.“ Er findet außerdem, man solle die Betroffenen nicht zensieren: Wenn jemand mal eine Beleidigung ausdrücken wolle, dann solle der Frust auch raus können.
So geht es für Noah (18) und seinen Integrationshelfer nach der Schule weiter
In einer Gelsenkirchener Behindertenwerkstatt will Noah bald ein Praktikum antreten, um dort zu arbeiten, sobald seine Schulzeit im Herbst endet. „Die Leistungsanforderungen sind niedrig, deshalb liegt die Vergütung deutlich unter dem Mindestlohn“, erzählt Jan Klug. „Sein Arbeitsplatz in der Klasse ist der ordentlichste. Er räumt auch die der anderen auf“, sagt seine Mutter. Passend dazu wird Noah in der Werkstatt voraussichtlich erstmal Sortieraufgaben übernehmen.
Die Begleitung durch einen I-Helfer in der Werkstatt sei die „absolute Ausnahme“, dafür sei der Betreuungsschlüssel mit rund einem Ansprechpartner auf fünf Mitarbeiter „nicht so schlecht“, findet Jan Klug. Der neue Lebensabschnitt soll beginnen, ohne „den Kontakt zu Michael abzuschneiden“. Daher versuchen die Klugs, Noah durch den familienunterstützenden Dienst ein paar Stunden am Wochenende mit Michael zu ermöglichen.
Sozialer Bereich: „Man verlässt sich darauf, dass sich jemand verantwortlich fühlt“
Die Ausgaben im sozialen Bereich seien gestiegen, sagt Jan Klug. Das liege daran, dass „Kinder, die früher problemlos mitgelaufen sind, heute Hilfe brauchen, weil das ganze System kaputtgespart ist“. Das Ehepaar Klug und Sozialdienstleister Björn Thannbauer kritisieren, dass Standards fehlen. Die Vergütung oder nötige Qualifikation als Schulbegleitung sei unterschiedlich, jede Kommune würde für sich entscheiden.
„Es wird immer mehr versucht, das absolute Minimum zu bieten. Man verlässt sich darauf, dass sich jemand verantwortlich fühlt.“ Für I-Helfer kommt entweder das Jugendamt, das Sozialamt oder der Landschaftsverband auf. „Das ist so eine unglaublich wichtige Aufgabe, und die Bezahlung ist oft prekär“, bedauert Vanessa Klug.
„Inklusion ist Chancengleichheit. Das heißt nicht einfach, die Kinder in ein Schulgebäude zu stecken und dort zu verwahren.“
Oft fehle es an Ferienbetreuung oder OGS-Angeboten
Den Schulbegleitern würde oft nur die reine Unterrichtszeit bewilligt. Mit Ausfällen im Stundenplan falle oft auch das Geld der Ämter für die Integrationshelfer weg, die dennoch gebraucht werden. Oft fehle es an Ferienbetreuung oder OGS-Angeboten, um Eltern das Arbeiten zu ermöglichen, berichtet das Paar aus Gelsenkirchen. Sie meinen: „Inklusion ist Chancengleichheit. Das heißt nicht einfach, die Kinder in ein Schulgebäude zu stecken und dort zu verwahren.“
Thannbauer ist überzeugt: „Ohne Schulbegleiter würde das ganze Schulsystem nicht funktionieren, weil es immer mehr Störungsbilder durch mangelnde Beschäftigung der Eltern mit ihren Kindern gibt. Stattdessen wird ihnen die Konsole oder Internetzugriff in die Hand gedrückt.“ Der 41-Jährige vermisst Anlaufstellen für aggressive Kinder, Kampagnen und Workshops für Lehrkräfte.
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