Bottrop. Lenny ist Autist und in seiner Bottroper Schule massiv attackiert worden. Die Familie kämpft für eine Lösung, aber die Behörden machen nicht mit.

Lenny ist 13 Jahre alt und besucht seit einem Jahr keine Schule. Ein Schwänzer ist er nicht, sondern jemand, dem Schreckliches widerfahren ist und für den das Schulsystem keine Standard-Lösung bereithält. Lenny ist Autist – seit Monaten kämpfen seine Mutter und seine Oma dafür, dass der Junge ein passendes Unterrichtsangebot bekommt, doch die Bürokratie legt ihnen Steine in den Weg, lässt sie vor Unverständnis verzweifeln und vor Wut weinen.

„Ich habe schon immer gewusst, dass Lenny anders ist“, sagt seine Mutter. „Er war ein Eigenbrötler, lebte in seiner eigenen Welt.“ Sie sitzt am Küchentisch in einem Reihenhaus in der Gartenstadt Welheim. Vor zwei Jahren ist sie hierhergezogen, und auch wenn es vorher schon immer Schwierigkeiten mit Lennys Beschulung gegeben hat – in Bottrop ist die Situation eskaliert.

Auf der Bottroper Förderschule beginnt für Lenny der Horror

Lenny ist als Frühchen geboren und es fing schon damit an, dass er trotzdem mit sechs Jahren – er hat im Juli Geburtstag – eingeschult werden sollte. Seine Mutter habe versucht, sich zu wehren, aber eine Rückstellung sei damals in Bochum nicht infrage gekommen. Schon in der Grundschule sei Lenny derjenige gewesen, „der immer bestraft wurde“.

Er konnte nicht still auf dem Stuhl sitzen, konnte dem Lehrer nicht konzentriert folgen. Ständig sei er dem Unterricht verwiesen worden. Schon damals sei er von Mitschülern körperlich angegangen worden. Ein Sportbeutel, der ihm entgegengeschleudert wird, lässt seine Netzhaut einreißen. Ein Stock verletzt ihn unterhalb des Auges. Ein Eisentor wird ihm gegen den Kopf geschlagen und löst eine Gehirnerschütterung aus. Er kommt mit Würge-Malen am Hals nach Hause.

Sarah Klug aus Bottrop hat Probleme mit der Beschulung ihres autistischen Sohns Lenny
„Ich habe immer schon gewusst, dass Lenny anders ist“, sagt Sarah Hartmann über ihren Sohn. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Die Familie zieht von Bochum nach Witten, schließlich vor zwei Jahren nach Bottrop. Nach zahlreichen Untersuchungen bekommt Lenny die Diagnose atypischer Autismus. Zudem wird eine Lese-Rechtschreibschwäche attestiert. Die Schulaufsichtsbehörde legt einen Förderschwerpunkt fest im Bereich emotionale und soziale Entwicklung.

Aus diesem Grund besucht Lenny in Bottrop die Förderschule, die ihren Hauptstandort an der Gelsenkirchener Bergmannsglückstraße hat und eine Zweigstelle in Bottrop betreibt. Für den Jungen beginnt zu diesem Zeitpunkt der Horror.

Er wird gemieden und gemobbt, wie seine Mutter und seine Oma erzählen. Schüler bespucken und erpressen ihn. Sie verfolgen und schlagen ihn. Er sei im Unterricht oft bestraft worden, habe mit dem Rücken zu den anderen im Klassenraum vor dem Waschbecken sitzen müssen.

In einer WhatsApp-Gruppe wird Kopfgeld auf Lenny ausgesetzt

„Ich hatte immer Angst um ihn“, sagt Lennys Oma. Eine Gruppe von Jugendlichen gründet eine WhatsApp-Gruppe, in der ein Kopfgeld auf Lenny ausgesetzt wird. Jungen stehen plötzlich vor der Haustür, dringen in den Garten ein, rufen nach Lenny, damit sie „das Kopfgeld abkassieren können“. Er zieht zu seiner Oma nach Bochum, geht nicht mehr zur Schule. Die Familie erstattet Anzeige gegen die Jugendlichen, die meisten sind nicht strafmündig, aber es habe zwei Verurteilungen wegen versuchten Raubs mit Körperverletzung gegeben, sagt Sarah Hartmann*.

Lenny, der mit einem guten Grundschulzeugnis nach Bottrop kommt, rutscht ab. Der schmächtige Junge mit dunklen Haaren und Teenager-Pickeln im Gesicht, der gerne mit Technik bastelt und Cappy trägt, fängt an, sich die Finger blutig zu knibbeln, sobald man nur die Schule erwähnt. Die Oma sagt, er müsse sich wehren. Lenny erwidert: „Oma, ich kann mich nicht wehren, die schlagen mich doch irgendwann tot.“

Als Lenny sich durchringt, noch mal einen Tag in die Schule zu gehen, wird er an der Bushaltestelle zusammengeschlagen. Das war im November 2023. Seitdem hat Lenny keinen Unterricht mehr besucht. Zu den Vorfällen an der Schule befragt, antwortet die Direktorin, dass sie keine Stellungnahme zu Lenny abgebe und weiter: „Von Ihnen behauptete Konflikte unter Schüler:innen sind interne Angelegenheiten, die innerhalb der Schulgemeinschaft und ihrer Gremien gelöst werden.“

Die Familie sucht nach einer Alternative, einer Schule, in der sich Lenny sicher fühlt. Das Problem ist, dass Lenny die Lautstärke in großen Klassen nicht ertragen kann. Dass eine Regelbeschulung mit Integrationshelfer für ihn nicht passend ist.

Bottroper Autismus-Zentrum: „Lautstärke ist eine große Herausforderung und anstrengend“

Das bestätigt auch das Autismus-Zentrum Bottrop, das Lenny mehrfach untersucht hat. „Die Beschulung von Kindern mit Autismus ist immer mit Herausforderungen verbunden“, sagt deren therapeutischer Leiter Robin Schlichte. Dabei gehe es zum einen um die neurologischen Probleme, zum anderen um die sozialen Anforderungen.

Menschen mit Autismus haben keine Fähigkeit, Reize zu sortieren“, sagt Robin Schlichte. Sie seien sehr ablenkbar, weil sie nicht in der Lage sind zu entscheiden, welcher Reiz wichtig ist und welcher nicht. „Lautstärke ist eine große Herausforderung, das ist sehr anstrengend für Menschen mit Autismus.“ Sie profitierten von einer reiz-ärmeren, ruhigen Umgebung.

Zudem fällt es Menschen mit Autismus schwer, um Hilfe zu bitten, so der Fachmann. Sie sind unsicher, ziehen sich zurück und werden so „leicht zu typischen Mobbing-Opfern“. Robin Schlichte erklärt: „Sie können sich nicht verteidigen, außer wenn sie eskalieren. Das nennt man dann Overload.“

Seine Kollegin Svenja Bittinger schreibt in ihrer Stellungnahme, die sie nach mehreren Gesprächen mit Lenny angefertigt hat, dass Lenny „aus unserer Sicht von einer Rückkehr in die Schule, insbesondere in eine kleine Klasse mit individueller Begleitung deutlich profitieren würde“.

Zwar hat die Förderschule in Bottrop diese kleinen Klassen, allerdings mit einer schwierigen Klientel, wie auch Robin Schlichte sagt. „Schulen mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung sind oft problematisch für Autisten.“

Nach Besuch der Privatschule in Herne: „Lenny war wie ausgewechselt“

Sarah Hartmann findet eine Alternative. Die Constantinschule in Herne ist spezialisiert auf Autisten, sie bietet das, was sowohl das Autismus-Zentrum als auch der Kinderarzt und der Kinderpsychiater von Lenny raten. Die entsprechenden Atteste liegen der Redaktion vor. Lenny besucht die Schule für eine Woche und ist begeistert. „So habe ich meinen Sohn noch nie erlebt, er war wie ausgewechselt“, sagt seine Mutter. „Er ist jeden Morgen gerne in die Schule gegangen, hat sich darauf gefreut.“

Es gibt allerdings zwei Probleme: Die Constantinschule nimmt Lenny nur auf, wenn sein Förderschwerpunkt zurückgenommen wird. Und: Sie ist eine Privatschule, die Kosten liegen bei 1100 Euro pro Monat. Für die alleinerziehende Mutter, die noch eine Tochter im Kindergartenalter hat, ist das nicht zu stemmen. Es könnte die Möglichkeit geben, dass das Jugendamt die Kosten übernimmt. Allerdings muss Lenny dafür erst einmal an der Constantinschule angenommen werden.

Sozial- und Schuldezernentin Karen Alexius-Eifert.

„Wir arbeiten daran, dass diesem Jungen geholfen werden kann und für ihn eine adäquate Beschulung möglich ist.“

Karen Alexius-Eifert

„Das muss zunächst über die Schulaufsicht laufen“, sagt Schuldezernentin Karen Alexius-Eifert. Also über die Bezirksregierung. „Wir arbeiten daran, dass diesem Jungen geholfen werden kann und für ihn eine adäquate Beschulung möglich ist, aber es steht und fällt mit dem Förderbedarf“, sagt die Dezernentin und fügt hinzu: „Wir sind für alle Lösungen offen.“

Die zuständige Schulamtsdirektorin bei der Bezirksregierung allerdings nimmt den Förderschwerpunkt nicht zurück. Auf Anfrage unserer Redaktion zu den Gründen macht sie mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte von Lenny keine Angaben.

Robin Schlichte und Svenja Bittinger vom Autismus-Zentrum sagen, dass sie nicht nachvollziehen können, warum die Behörden „nicht wohlwollend auf die Rücknahme des Förderschwerpunktes blicken“. Es sei wichtig für Lenny, dass nun etwas passiere. „Er ist wirklich ein toller Junge, dem derzeit ganz viel verbaut wird.“

Schule zweifelt Schulunfähigkeit von Lenny an

Unterdessen hat die Schule Anfang November in einem Brief die Schulunfähigkeit von Lenny angezweifelt. Das Attest seines Kinderarztes widerspreche „dem Ergebnis des schulärztlichen Gutachtens von August 2024“. Demnach sei Lenny schulfähig. Sarah Hartmann wird „um eine erneute Vorstellung und Untersuchung im Gesundheitsamt gebeten“.

Für die Mutter ist es keine Option, dass Lenny jemals wieder die Schule an der Bergmannsglückstraße besucht. Schon das Schreiben der Schule löst Angstzustände bei ihm aus, er fürchtet, dass „sie kommen und ihn in die Schule zwingen“. Die Mutter ist verzweifelt. „Lenny hat innerlich zu kämpfen, das ist nicht wie ein gebrochenes Bein“, sagt Sarah Hartmann. „Wir wollen nicht, dass er Zwangs-beschult wird, wir haben Angst.“ Wenn sich keine Lösung findet, bleibe ihr nur der juristische Weg. Die Constantinschule jedenfalls halte Lenny einen Platz frei.

*Name von der Redaktion geändert