Bottrop. Von der Redaktion in die Werkstatt und umgekehrt. Menschen mit und ohne Behinderung tauschen die Arbeitsplätze mit überraschenden Erkenntnissen.

Der Empfang ist warm und herzlich. „Hallo, ich bin Ingo und wir duzen uns hier alle“, sagt Ingo Meier zu mir. Er leitet die Gruppe des Kunstateliers Freihand in der Rheinbabenwerkstatt. Im Rahmen des bundesweiten Schichtwechsel-Tages arbeite ich heute mal nicht in der WAZ-Redaktion, sondern hier.

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Die Frauen und Männer im Kunstatelier haben nicht einfach nur einen Arbeitsplatz. Von der ersten Minute an spüre ich die Kreativität im Raum. Fast ein Dutzend Kunsthandwerker, so die offizielle und sperrige Berufsbezeichnung, üben und leben ihre künstlerische Ader im Atelier aus.

Ihre eigenen Ideen können sie zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel mit Acryl- oder Ölfarben auf Leinwänden. Zu bestaunen sind sie an den Wänden oder im Foyer. „Die Wahl des Materials ist frei“, sagt Ingo Meier. Mal sind die Bilder abstrakt, mal detailverliebt.

Die Werke werden ausgestellt wie im Bürgerbüro oder sogar im Museum Quadrat. „Wir möchten zeigen, dass Menschen mit Einschränkungen ebenso ernst zu nehmen sind als Künstlerinnen und Künstler wie Menschen ohne Einschränkungen“, meint der Gruppenleiter.

Ingo Meier (links, hinten) leitet das Kunstatelier Freihand. Die Künstlerinnen und Künstler haben, wie der Ateliername schon sagt, freie Hand bei der Gestaltung ihrer Werke.
Ingo Meier (links, hinten) leitet das Kunstatelier Freihand. Die Künstlerinnen und Künstler haben, wie der Ateliername schon sagt, freie Hand bei der Gestaltung ihrer Werke. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Das Kunstatelier Freihand übernimmt aber auch Auftragsarbeiten von Kunden. Aber bei der Gestaltung haben sie freie Hand. Aktuell werden Weihnachtskarten kunstvoll hergestellt. Die Auflage kann schon mal bei 1000 Stück liegen. Es gibt auch Magnete mit den Motiven, oder die Kunstwerke können gekauft werden. Ist die Auftragslage dünn, bleibt mehr Zeit zur freien Entfaltung.

Besonders beliebt ist der Jahreskalender – eine Retrospektive der Werke. Bei der Gestaltung des Kalenders für 2025 darf ich dank des Schichtwechsels mithelfen. Irina zeigt mir, wie es geht. Zunächst müssen die zwölf DIN-A-4-Seiten ausgedruckt und nach den richtigen Monaten sorgfältig sortiert werden.

So entsteht der Jahreskalender in der Bottroper Rheinbabenwerkstatt

Mithilfe einer Maschine wird an den oberen Enden der Blätter mit einem kräftigen Hebeldruck 14 kleine, rechteckige Flächen auf einmal ausgestanzt. Gefolgt von einem ausgestanzten Halbkreis in der Mitte des Blattes. Hier wird nachher die Leiste mit dem Kalenderhaken eingefasst.

Dann kommt ein Material zum Einsatz, dessen Name nur die deutsche Sprache möglich macht: Drahtkamm-Bindeelemente. Die Blätter werden mit den ausgestanzten Flächen vorsichtig in die kleinen Kämme gelegt. Hier sind filigrane Fertigkeiten und Geduld gefragt, ehrlicherweise nicht unbedingt meine Stärken.

Jahreskalender des Kunstateliers beinhaltet zwölf Motive als Postkarten

Man muss dabei aufpassen, dass man beim Einlegen der Blätter die Kämme nicht automatisch zudrückt. Erstens, diesen Schritt soll schließlich die Maschine erledigen, zweitens halten die Blätter dann beim Fingerdruck nur schlecht in den Drahtkämmen.

Anschließend wird alles in die Maschine gespannt, der Hebel nach unten gedrückt, und der Kalender ist fast fertig. Es fehlen nur noch die Postkarten. Denn für jeden Monat wird ein Motiv für das Kalenderblatt ausgewählt und eingeklebt. Besitzer des Kalenders können von Januar bis Dezember die jeweilige Postkarte problemlos lösen und verschicken. „Es macht wirklich Spaß“, sagt Irina, während sie mir hilft. Ihr Werk „Der Schwarm“ schmückt den Januar 2025.

Aber die Rheinbabenwerkstatt ist noch viel mehr. Deswegen schiebe ich am bundesweiten Aktionstag eine Doppelschicht. Nächster Standort: Holzwerkstatt und Montage. In den zwei Hallen bauen bis zu 40 Mitarbeiter unter der Aufsicht von Gruppenleiter Michael Benstöm unter anderem Schränke für Kunden zusammen, schneiden Holz und Kunststoffleisten auf Maß oder stellen eigene Kunstwerke und Produkte her, die dann wiederum verkauft werden.

Martin Buslei arbeitet in den Bottroper Werkstätten an der Heinrich-Theißen-Straße. An der Bohrmaschine sind Vorrichtungen aus Holz gebaut, sodass hier die Kunststoffleisten ohne Probleme bearbeitet werden können. Die Vorrichtungen erleichtern erheblich die Arbeit für die Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen.
Martin Buslei arbeitet in den Bottroper Werkstätten an der Heinrich-Theißen-Straße. An der Bohrmaschine sind Vorrichtungen aus Holz gebaut, sodass hier die Kunststoffleisten ohne Probleme bearbeitet werden können. Die Vorrichtungen erleichtern erheblich die Arbeit für die Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Wie mir Michael Benstöm erklärt, ist auch hier das Ziel, die Beschäftigten im besten Fall für den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten. Das Portfolio ist breit gefächert. Bauteile für das Unternehmen Seibel und Weyer oder die Bierkästen aus Holz für das Bottroper Bier stammen zum Beispiel aus der Werkstatt. „Wir wollen vernünftige Qualität liefern“, sagt der Gruppenleiter.

Teamwork in der Rheinbabenwerkstatt: WAZ-Redakteur Carsten Liebfried schneidet Kunststoffleisten an der Kreissäge auf die gewünschte Länge zu. Die abgesägten Teile werden von Martin Buslei (links) genommen und zur Seite gelegt.
Teamwork in der Rheinbabenwerkstatt: WAZ-Redakteur Carsten Liebfried schneidet Kunststoffleisten an der Kreissäge auf die gewünschte Länge zu. Die abgesägten Teile werden von Martin Buslei (links) genommen und zur Seite gelegt. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

An der CNC-Fräsmaschine, den Bohrmaschinen und an den Kreissägen sind extra Vorrichtungen gebaut worden. Das erhöht die Sicherheit und die Handhabe für die Mitarbeiter. Denn wegen ihrer geistigen Einschränkungen (Trisomie 21, Autismus) benötigen einige von ihnen mehr Aufmerksamkeit, mehr Führung und mehr Unterstützung.

Was mir in der Werkstatt auffällt: Niemand wirkt gestresst. Niemand regt sich auf, niemand macht Druck. Den einzigen Lärm erzeugen gegebenenfalls die Maschinen. Wenn Pause ist, dann ist Pause. Und das Beste: Die Arbeiten werden am Ende des Tages trotzdem fertig. Von so einem Arbeitsklima können andere Branchen noch sehr viel lernen.

Werkstattmitarbeiter Günter kommt zum Schichtwechsel in die WAZ-Redaktion Bottrop

So funktioniert der bundesweite Schichtwechsel-Tag zur Förderung der Inklusion: WAZ-Redakteur Carsten Liebfried arbeitet einen Tag lang in der Rheinbabenwerkstatt der Diakonie; im Gegenzug kommt Werkstattmitarbeiter Günter (65) in die WAZ-Redaktion. „Spannend, euch über die Schulter zu schauen“, sagt er beim Abschied.

Günters Familie ist aus dem Münsterland nach Bottrop gezogen. Er besuchte die Josefschule an der Mühlenstraße, die frühere Hauptschule an der Prosperstraße, heute Sitz der Albert-Schweitzer-Grundschule, sowie die Handelsschule am Rathaus an der Luise-Hensel-Straße.

Schichtwechsel für Günter (li.) aus der Bottroper Rheinbabenwerkstatt: Er schaut WAZ-Redakteur Kai Süselbeck beim Schreiben über die Schulter.
Schichtwechsel für Günter (li.) aus der Bottroper Rheinbabenwerkstatt: Er schaut WAZ-Redakteur Kai Süselbeck beim Schreiben über die Schulter. © WAZ | LH

Gearbeitet hat er bei Stahlbau Hölter, dem Molkereivertrieb Große-Kreul am Boyer Bahnhof, bei Schellberg auf dem Eigen, beim Schlachthof Mengede und beim Abbruchunternehmen Becker. Nach dem Tod seiner Mutter wurde er schwer krank und ist seit vielen Jahren beschäftigt beim Diakonischen Werk. Dort arbeiten mehr als 300 Menschen, ob als Beschäftigte mit Behinderung, als Fachkraft der Arbeits- und Berufsförderung, als Facharbeitende, Pflegefachkraft oder als Verwaltungsmitarbeitende. 

In Bottrops Rheinbabenwerkstatt wird bald wieder Weihnachtsdeko verpackt

In der Rheinbabenwerkstatt prüft und packt Günter Paletten mit Schrauben, Wundpflastern und demnächst wieder Weihnachtsdeko. Vorerst arbeitet er mit zwei Kollegen mit Holz- und Wellblechschrauben. Sein Job: Prüfen, Verpacken, Wiegen und Stapeln auf Paletten.

Doch jetzt führt ihn der Schichtwechsel-Tag in die WAZ-Lokalredaktion am Gleiwitzer Platz. Das Bauknecht-Quartier kennt Günter noch als RAG-Haus. „Die hatten eine tolle Kantine hier.“ In der Redaktionskonferenz verfolgt er die Themenplanung für die nächsten Tage und lässt sich dann die technischen Abläufe zeigen von der Themenidee bis zum Onlineartikel plus Printkopie für die gedruckte Zeitung. „Mit der Tastatur komme ich klar, das ist wie früher an der Schreibmaschine“, sagt er. „Nur für die Maus habe ich nicht das richtige Händchen.“

Seine letzten Schichtwechsel hat Günter nächstes Jahr: Dann geht er in Rente. Zukunftspläne? Als Rentner wollen er und seine langjährige Partnerin heiraten. „Und dann wollen wir noch was haben vom Leben.“