Bottrop. Michael Gerdes (64) ist Vollblut-Politiker bis der Körper streikt. Der Stress bringt ihn fast um. Nun macht er sich stark für Organspenden.
Michael Gerdes hat dem Tod ins Auge geblickt. Fünf Jahre sind seitdem vergangen. Es ist der Moment, der sein bisheriges Leben komplett verändert hat. Dabei sollte es ein schöner Urlaub mit seiner Frau werden.
„Wir sind zu unserem Lieblingsort nach Mallorca geflogen“, erinnert sich der heute 64-Jährige. Zwei Wochen will der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Bottrop-Gladbeck-Dorsten in der Sommerpause abschalten vom politischen Betrieb in Berlin. „Ich habe mich körperlich ein bisschen unwohl gefühlt.“ Auf Mallorca wird es dann schlimmer.
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„Ich hatte ein Gefühl, als ob ich mich erbrechen müsste. Ich hatte Würgereize“, so Gerdes. Er ignoriert die Signale, die ihm sein Körper sendet. 14 Tage lang quält er sich. Er habe kaum Hunger oder Durst gehabt. „Zum Ende des Urlaubs hat sich die Situation dramatisch verschlechtert.“
Er geht doch zum Arzt, der will ihn in Palma ins Krankenhaus einweisen. „Auf keinen Fall“, wiegelt Gerdes damals ab. Am nächsten Tag steht schließlich der Rückflug nach Deutschland und ein paar Tage später ein Routinetermin beim Arzt an.
Sehschwächen und Schweißausbrüche am Flughafen von Palma
Samstagmorgens sei er mit dem Leihwagen zum Flughafen nach Palma gefahren. „Ich konnte die Schilder schon kaum mehr erkennen.“ Mit seiner Frau durchquert er die Sicherheitskontrolle. Der Zustand verschlimmert sich. „In der Wartehalle hatte ich Schweißausbrüche.“ Danach habe er sich „in den Flieger geschleppt“.
Der Flug wird zu einer Tortur. „Ich hatte Wahnvorstellungen. Ich habe aus dem Fenster gesehen. Und alles war schwarz-weiß. Ich habe geglaubt, es hat geschneit.“ Am Flughafen in Dortmund werden sie von einem Freund abgeholt. Dieser erkennt den Ernst der Lage, will ihn ins Krankenhaus bringen. Aber Gerdes wiegelt wieder ab.
Gerdes: „Ich bin auf die Intensivstation gekommen. Ich hatte totales Organversagen.“
Er will lieber nach Hause auf die Couch, sich ausruhen. Seine Kinder seien am Sonntag bei ihm zu Besuch gewesen. „Zwei Meter standen sie vor mir und ich habe nur ihre Silhouetten gesehen“, sagt Gerdes.
Ein Blutzuckermessgerät bringt die Wahrheit ans Licht. Lebensgefährlich wird es, wenn der Wert über 500 angestiegen ist. „Mein Wert war weit darüber“, sagt Gerdes. In einem klaren Moment begreift er seine Situation. Ein Krankenwagen mit Martinshorn und Blaulicht bringt ihn schließlich ins Bottroper Knappschaftskrankenhaus.
Dann kommt der Blackout. „Ich weiß noch, dass eine Ärztin gesagt hat ‚Ich rufe mein Team“, sagt Gerdes. An die nächsten zehn Tage kann er sich nicht mehr erinnern. Man erzählt ihm später, was passiert ist. „Ich bin auf die Intensivstation gekommen. Ich hatte totales Organversagen.“ Nur das Herz hat noch funktioniert.
„Vielleicht kann ich durch meine Geschichte den einen oder anderen motivieren, Organspender zu werden.““
Sein Zuckerspiegelwert ist weiterhin tödlich hoch. Ein Arzt sagte ihm später: „Normalerweise überlebt man so etwas nicht.“ „Fünf Tage haben die Ärzte um mein Leben gekämpft“, sagt Michael Gerdes. Eine Extremsituation, auch für seine Familie. Nach zehn Tagen verlässt er die Intensivstation. Die Diagnose liegt vor. „Meine Gallenblase war entzündet.“ Das Organ soll entfernt werden. Doch die Ärzte wollen kein unnötiges Risiko eingehen.
Gerdes wird ins Uni-Klinikum nach Bochum überwiesen. „Wir müssen den Bauchraum erst einmal aufräumen“, hätten die Ärzte zu ihm gesagt. Zu viel Eiter hatte sich gebildet. Der Bauchraum muss mehrfach gespült, Flüssigkeit und Eiter abgepumpt werden. Durch die Entzündung der Gallenblase und den Eiter sei laut Gerdes auch die Bauchspeicheldrüse angegriffen worden.
Erst nach dem ganzen Procedere wird die Gallenblase operativ entfernt. Der Operateur sagte zu Gerdes: „So ein Ding hätte er noch nicht gesehen.“ Nach der Operation geht es langsam gesundheitlich vorwärts. In der Reha kämpft er sich wochen- und monatelang zurück ins Leben. Zum Beispiel muss er wieder neu laufen lernen.
Gewichtsverlust: Früher trug er XXXL-Anzüge, heute trägt er die Größen L oder M
In den Krankenbericht hat er nur einen kurzen Blick geworfen. „Ich will das alles gar nicht so genau wissen“, sagt er rückblickend. In dieser schweren Zeit verliert Michael Gerdes 27 Kilogramm an Gewicht. Damals trug er Anzüge der Größe XXXL, heute schwankt er zwischen M und L. „Ich habe unglaublich viel Glück gehabt“, sagt er. „Erstens, weil ich das überlebt habe und zweitens, weil meine Augen wieder funktionieren.“ Wie sein Augenarzt erklärt, hätte er aufgrund des hohen Blutzuckerwertes auch erblinden können.
„Diese Erkrankung ist der Wendepunkt in meinem Leben gewesen. Seitdem betrachte ich das Leben anders“, wirkt Gerdes nachdenklich. Er ist Vollblut-Politiker. Seit seinem 16. Lebensjahr engagiert sich der 64-Jährige in der Politik für die SPD. Er ist Mitglied im Rat der Stadt Bottrop, Ausschussvorsitzender des Sport- und Bäderbetriebs. Seit 2009 ist er der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis.
Ein Arbeitstag als Abgeordneter kann von morgens bis tief in die Nacht gehen
In der Sitzungszeit arbeitet er von Montag bis Freitag in Berlin, pendelt dafür Montagmittag von Bottrop in die Hauptstadt. Ein politischer Alltag, der eng getaktet und vollgepackt ist mit Terminen, Ausschüssen, Arbeitsgruppen, Sitzungen, Plenumsbesuchen und Empfängen.
Sein Arbeitstag kann bis zu 16 Stunden dauern und bis tief in die Nacht gehen. Freitagsnachmittags geht es zurück in die Heimat. Am Wochenende steht die Arbeit im Wahlkreis auf dem Programm. „Also Langeweile kommt da nicht auf“, sagt Gerdes über das Programm, das er seit Jahren bewältigt.
Gerdes: „Ich hatte eindeutig an vielen Stellen zu viel negativen Stress.“
Warnhinweise seines Körpers ignoriert er. Rückblickend lassen sich nicht mehr die genauen Ursachen für die entzündete Gallenblase erklären. Gerdes selbst kommt zu dem Schluss. „Ich hatte eindeutig an vielen Stellen zu viel negativen Stress. Man hat sich selten Ruhe gegönnt.“
Abends habe er in seiner Berliner Wohnung oft nicht mehr gewusst, was er im Laufe des Tages alles gemacht habe. Er liebt es, Bundestagsabgeordneter zu sein. Aber: „Es ist ein Knochenjob.“
Stress, schlechte Ernährung: Jahrelang betreibt er Raubbau am eigenen Körper
Der Preis für so viel Einsatz in der Politik ist hoch. Eine gesunde und ausgewogene Ernährung bleibt jahrelang auf der Strecke. „Ich habe dann zwischendurch irgendwas gegessen“, sagt er. Das habe sich seit der Erkrankung geändert. Er achtet auf die Ernährung. „Nicht so wie früher, da war es mir meistens egal, was ich gegessen habe. Hauptsache, ich hatte etwas im Magen.“ Ab und zu genießt er weiterhin ein Bierchen. „Aber nur noch in Maßen.“
Vor seiner Erkrankung verübte er Raubbau am eigenen Körper. Er habe immer gedacht: „Mich haut nichts aus der Bahn. Es trifft höchstens die anderen.“ Inzwischen kann er im politischen Alltag auch mal abschalten. Wenn er im Bundestag in Berlin ist, geht er beispielsweise ein Stück an der Spree spazieren. „Ich nehme mir ganz bewusst diese halbe Stunde am Tag.“
Seit diesem Wendepunkt in seinem Leben engagiert er sich aktiv für Organspende. Er setzt sich mit anderen Abgeordneten im Bundestag für die Widerspruchsregelung ein. Das bedeutet, jede Person wird nach dem Tod zu einem potenziellen Organspender. Es sei denn, man hat zu Lebzeiten dem widersprochen. Der erste Anlauf für eine Widerspruchsregelung war 2020 gescheitert.
Zurzeit gilt in Deutschland die Zustimmungsregelung. Wer zu Lebzeiten seine Bereitschaft zur Organspende erklärt hat, ist auch ein potenzieller Organspender. Michael Gerdes hat nun immer seinen Organspendeausweis bei sich. Vor ein paar Wochen hat er im Bundestag ein Zeichen gesetzt. Mit vielen weiteren Abgeordneten hat er sich zwischen zwei Plenar-Debatten das Organspende-Tattoo stechen lassen.
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Im Gegensatz zum Ausweis ist das Tattoo jedoch nicht rechtskräftig. Angesichts seiner dramatischen Situation sagt Gerdes: „Wenn mir nicht mehr zu helfen gewesen wäre, hätte ich aber anderen Menschen helfen können. Vielleicht kann ich durch meine Geschichte den einen oder anderen motivieren, Organspender zu werden.“
Gerdes verdankt vielen Menschen sein weiteres Leben. Drei von ihnen nennt er seine Lebensretter: Dr. Guido Trenn, früherer Chefarzt der Klinik Innere Medizin I am Bottroper Knappschaftskrankenhaus, Prof. Dr. Ali Canbay und Prof. Dr. Richard Viebahn (beide Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum). Der größte Dank gilt den Angehörigen: „In der schweren Zeit hat mir meine Familie viel Kraft und Unterstützung gegeben.“