Oberhausen. Alina Ovcharenko erlaubt dem Krieg nicht, die Oberhand über ihr Leben zu gewinnen. Mit ihrer positiven Art hilft sie auch anderen.
Diese Frau ist ein Ereignis. „Dankeee...! Zweites Obergeschoss bitteeee...!“ Schon wie sie ihre Gäste durch die Gegensprechanlage des Mehrfamilienhauses an der Mülheimer Straße flötend begrüßt, macht gute Laune. Oben, wo der Verkehrslärm durchs gekippte Fenster genau so weiter tost wie unten auf der Straße, empfängt sie uns mit plaudriger Herzlichkeit und einer ansteckenden Energie. Die füllt mühelos die kargen Räume einer Bleibe, der man ansieht, dass sie noch auf dem Weg dahin ist, zu werden, was sie werden soll: eine neue Heimat für Alina Ovcharenko.
In der kleinen Küche hat die 31-Jährige aufgetischt. Auf schlichtem weißem Porzellan türmen sich Wareniki, ukrainische Teigtaschen. Einmal mit Pilzen gefüllt, einmal mit Zwiebeln. Sie sehen aus wie gerade aus der Pfanne gekommen. Dazu ein Schüsselchen Joghurt und eine Platte akkurat angeordneter Gurkenspalten und Tomatenviertel. Auf der Anrichte wartet ganz offensichtlich noch ein Kuchen. Alina Ovcharenko hat gerne Besuch, so viel ist klar – und wir werden hier nicht wegkommen, ohne von allem zu probieren. Das tun wir gerne, während die 31-Jährige mit ansteckender Fröhlichkeit – und in erstaunlich gutem Deutsch – von ihrem neuen Leben in der Fremde erzählt und dem Verein, den sie ganz frisch mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern gegründet hat: „Gromada UA“.
Geflüchtete aus der Ukraine: „Das Leben ist keine Pralinenschachtel“
„Bei uns sagt man: verwurzelt wie ein Baum.“ Alina Ovcharenko macht verschlungene Handbewegungen, um zu veranschaulichen, was sie meint: dass sie mit ihrer Heimatstadt Kiew fest verwachsen war. Sie liebte ihr Leben in der Millionen-City voller Kultur und Lebensart. Ging auf in ihrem Job als Leiterin der Unternehmenskommunikation der Stadtwerke. Es sei aufregend gewesen, sagt sie, und immer anders. Selbst in Pandemiezeiten, die sie als Herausforderung betrachtete. Als der Krieg in ihr Leben kam, war sie noch in Trauer um ihre verstorbene Mutter. Das Land zu verlassen, auch den Vater, der als 59-Jähriger nicht ausreisen darf, weil er einberufen werden könnte, das sei ihr nicht einen Moment in den Sinn gekommen.
Bis zu dem Tag, als die Bombe einschlug. Nur 500 Meter von ihrem Zuhause entfernt. Weil der Flughafen in der Nähe ist, kamen noch viele weitere Attacken der russischen Armee in Sicht- und Hörweite. „Ich habe dann verstanden, dass ich weg muss. Es ging nicht anders, auch psychisch nicht.“ Das ist einer der seltenen Momente, in denen Alina Ovcharenko ernst aussieht und traurig. „Das Leben ist keine Pralinenschachtel“, wischt sie das Thema schnell weg. Im April 2022 habe sie sich zusammen mit einer Freundin nach Polen aufgemacht. Nach Deutschland sei sie dann alleine weitergereist.
Oberhausen: Angebote für Neuankömmlinge aus dem Kriegsgebiet
„Mein Leben hier ist fantastisch“, sagt Alina Ovcharenko. Ihr Strahlen ist ehrlich, man muss es ihr abnehmen. Von Anfang an seien alle so nett gewesen: „Es gibt so viel Empathie für uns. Die Oberhausener sind meine zweite Familie geworden.“ Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes und Ukrainer, die schon länger hier leben, hätten ihr in den ersten Wochen und Monaten sehr geholfen. Nach einer kurzen Zeit in einer Unterkunft habe sie dann diese Wohnung gefunden. Sie spricht zärtlich über das spärlich möblierte Appartement, erzählt scherzend, wie sie in den ersten Nächten kerzengerade im Bett saß, immer wenn die Straßenbahn in den Schienen quietschte. Das Geräusch erinnerte sie an das Zischen der Militärflugzeuge.
„Gromada UA“, das bedeutet: Ukrainische Gemeinde. Der volle Name des Herzensprojekts von Alina Ovcharenko lautet „Deutsch-Ukrainischer Integrations-Verein“. In erster Linie soll es hier Hilfen für neu eingetroffene Geflüchtete geben. Welches Formular muss wie ausgefüllt erden? Wo finde ich einen Arzt, der ukrainisch oder russisch spricht? Dies seien die Fragen, die schon jetzt in einer Telegram-Gruppe für Geflüchtete lebhaft diskutiert würden. Mit Unterstützung des Kommunalen Integrationszentrums will der Verein nun Angebote machen, die weiterhelfen. Aber auch Feste sollen gefeiert werden, „es gibt so viele bei uns.“ Ein erstes haben sie bereits im Kaisergarten erfolgreich ausgerichtet. Ebenso die Gedenkfeier für den Jahrestag des Kriegsbeginns. „Der Oberbürgermeister war auch da und ist die ganze Zeit geblieben. Das war cool. Wir haben sehr viel Respekt gefühlt.“
Ukrainerinnen, deren Männer im Krieg kämpfen: „So schnell wie möglich zurück“
Die zweite Aufgabe von „Gromada UA“: Hilfe für Menschen in der Ukraine. Sobald das Vereins-Geschäftskonto eröffnet ist, sollen Spenden gesammelt werden. Stromerzeuger und Lebensmittel hätten sie bereits auf den Weg gebracht. Auch wenn die Vereins-Vorsitzende nicht gerne darüber spricht, sie weiß genau, wie es denen geht, die geblieben sind. „Das Schlimmste ist, dass der Krieg für sie normal geworden ist“, sagt Alina Ovcharenko, „dass sie sich daran gewöhnt haben.“ Sie merke es bei Video-Telefonaten mit Freunden und Verwandten – selbst bei Gefahr seien diese müde, sich ständig in Sicherheit zu bringen.
Die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer in Oberhausen erlebt Alina Ovcharenko als zwiegespalten. „Die Frauen, deren Männer im Krieg kämpfen, wollen zurück, sobald es geht“, sagt sie. Andere würden sich auf ein Leben in Deutschland einrichten. Sie selbst denkt noch nicht so weit. Für sie zählt jetzt vor allem ihr Deutschkurs, den sie täglich besucht. Danach möchte sie so schnell wie möglich Arbeit finden, vielleicht im Marketing. „Ich habe das Gefühl, ich habe Schulden an Deutschland.“ Alina Ovcharenko erklärt es damit, dass sie Bürgergeld erhalte. Doch dahinter steckt wahrscheinlich viel mehr: Eine Aufgabe zu erledigen, dann noch eine und noch eine, das scheint diese ansteckende, anpackende, fröhliche Frau aufrecht zu halten. Damit sich die dunklen Gedanken nicht in ihr breitmachen können. Wer kann es ihr verdenken.
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