Oberhausen. Fast 4000 Ukraine-Flüchtlinge fanden in Oberhausen eine Zuflucht. Tausende in den Nachbarstädten. Vier von ihnen erzählen ihre Geschichten.
Weihnachten in einem fremden Land. Zum ersten Mal. Im Januar 2022 war ihre Welt noch in Ordnung, gingen die Kinder zur Schule, die Eltern zur Arbeit. Dann kam der 24. Februar und mit diesem Tag war nichts mehr wie früher. Der russische Angriffskrieg trieb zwischen Ende Februar und dem 8. November 2022 genau 1.024.841 Geflüchtete aus der Ukraine nach Deutschland. Rund 4000 davon fanden in Oberhausen eine Zuflucht. Tausende weitere in den Nachbarstädten. Auch ein Netzwerk aus Helfern aus Oberhausen und Dinslaken rund um einen Mitarbeiter der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen rettete viele von ihnen. Vier Geflüchtete erzählen uns ihre Geschichten. Ich treffe sie in der Ludwiggalerie.
Sergej Gordyeyev hat den Termin vermittelt. Er stammt selbst aus der Ukraine, lebt seit Jahren in Dinslaken. Seit 2007 ist er als Techniker für die Ludwiggalerie in Oberhausen tätig. Als der Krieg ausbrach, wurde der 58-Jährige sofort aktiv und schaltete auch das in Dinslaken entstandene Flüchtlingshilfe-Netzwerk der Stadt ein. Er übersetzt für uns.
Jewgeni und Viktoria Kitsenko wohnten in Charkiw, im Osten der Ukraine, in der Nähe der russischen Grenze. Mit rund 1,5 Millionen Einwohnern ist Charkiw nach Kiew die zweitgrößte Stadt des Landes. Viktoria ist Grundschullehrerin, Jewgeni Bauarbeiter. Als Russland die Ukraine beschoss, besuchten sie gerade Jewgenis kranke Eltern in einer benachbarten Kleinstadt. „Wir konnten von jetzt auf gleich nicht mehr nach Hause zurück“, erzählt der 56-Jährige. Alle Brücken waren zerstört. „Also blieben wir bei meinen Eltern.“ Als die Russen in die Kleinstadt einmarschierten, seien sie zunächst noch umgänglich gewesen. „Wir mussten zwar immer unsere Papiere vorzeigen, wenn wir in einen Laden wollten, aber das war es auch schon“, sagt Viktoria.
Russische Spezialeinheiten durchsuchten die Häuser
Doch das habe sich im April schlagartig geändert, als russische Spezialeinheiten das Kommando im Ort übernommen hätten. „Sie drangen in alle Häuser ein, machten die Schlösser kaputt, suchten nach Waffen oder sonstigen Hinweisen, dass man ein Kollaborateur der Ukraine ist“, erzählt die 54-Jährige. Ihr jüngster Sohn sollte für Russland in den Krieg ziehen. Doch dem 23-Jährigen gelang über Nacht die Flucht nach Tschechien. Der ältere lebt in einem anderen Teil der Ukraine und arbeitet dort noch immer als Logistiker. „Er ist gerade zum ersten Mal Vater geworden“, freut sich die frisch gebackene Oma, die ihren Enkelsohn bis heute nur am Handy sehen kann. Die Söhne drängten die Eltern zur Flucht.
Der Druck auf die ukrainischen Männer, sich dem Kampf für Russland gegen die eigene Heimat anzuschließen, wuchs. Kitsenkos griffen zur List. „Wir haben Verwandte in Russland, die Grenze ist dort so nah, wie bei euch zu den Niederlanden“, beschreibt Jewgeni. Also packten sie ihre wenigen Sachen und fuhren mit dem Auto nach Russland – und von dort gleich weiter nach Lettland. Im Juli kamen sie in Deutschland an. „Wir haben nichts mehr, aber wir leben noch“, sagen sie dankbar. Auch Jewgenis Eltern seien in Sicherheit. „Sie sind von der ukrainischen Armee evakuiert worden, nachdem die den Ort zurückerobert hatte. Mit uns hatten sie nicht fliehen wollen, weil sie die Ukraine nicht verlassen wollten.“
Nur noch ein Krater blieb vom schönsten Haus im ganzen Ort übrig
Auch Nadja Kücheniava stammt aus Charkiw. Sie erlebte den Kriegsausbruch in ihrer dortigen Stadtwohnung. Zehn Kilometer vor der Großstadt besaß die 68-Jährige ein Haus. „Das schönste im ganzen Ort“, schwärmt sie. Doch nur eine Woche nach Kriegsausbruch sei das Haus von russischen Soldaten geplündert worden. „Sie haben alles, was sie gebrauchen konnten, mitgenommen und den Rest zerstört – sie ließen mir nichts, kein Foto, keine Kleidung.“ Als die ukrainische Armee Charkiw im Mai befreite, kehrte sie dennoch in ihren Heimatort zurück. „Bomben hatten mein Haus getroffen, dort wo es gestanden hatte, war nur noch ein Krater“, erzählt Nadja und wischt dabei schnell die Tränen von ihren Wangen. Mit der Schwiegertochter und den beiden Enkelinnen (elf und vier Jahre alt) kehrte sie nach Charkiw zurück. „Zehn Tage blieben wir im Keller des Hochhauses, ohne Strom, Wasser und Heizung.“
Ich schäme mich. Während Nadja erzählt, muss ich daran denken, dass ich mich gerade über die Kälte in unserer Wohnung beschwert habe. Statt der üblichen 21 Grad, hatte mein Mann die Temperatur auf 18 Grad gedrosselt. 18 Grad, denke ich jetzt, was für ein Luxus!
Als Bomben in die oberen Etagen von Nadjas Hochhaus einschlugen, beschloss die Familie, zu flüchten. „Mein Sohn aber blieb, er schloss sich der ukrainischen Armee an.“
Ich sehe meinen Sohn vor mir, wie er da so an seinem Schreibtisch sitzt und fürs Abitur paukt. Ich stelle mir vor, ihn in den Krieg ziehen lassen zu müssen. Unvorstellbar!
Mit Bussen nach Russland evakuiert
Julietta Arakelian (60) hat den Kriegsbeginn in Mariupol erlebt. Ihre jüngere Tochter war gerade bei Freunden in Düsseldorf zu Besuch – und blieb gleich dort. Sie bat ihre Mutter zu flüchten. Doch als die mit dem Schwiegersohn und der 15-jährigen Enkelin am 26. Februar zum Bahnhof kam, „fuhr kein Zug mehr“. „Innerhalb weniger Tage hatten die Russen die Stadt eingeschlossen.“ Es gab keinen Strom mehr. „Am 6. März drehten sie uns den Gashahn zu.“ Die Menschen fällten Bäume, kochten im Freien – bei acht Grad minus. Die Lebensmittel seien schnell knapp geworden. „Die ukrainischen Soldaten teilten ihre Rationen mit uns, sonst wären wir verhungert.“ Am 12. März traf eine Bombe ihr Hochhaus. „Von der neunten bis zur sechsten Etage blieb nur Schutt übrig. Wir kehrten trotzdem in unsere Wohnung in der zweiten Etage zurück und schliefen im Flur.“ Dann traf die nächste Bombe das Haus.
„Wir rannten auf die Straße und flüchteten in ein Krankenhaus.“ Das war von russischen Soldaten besetzt, aber sie durften bleiben. Die Soldaten hätten sie gewarnt, das Krankenhaus zu verlassen. „Sonst würden wir erschossen.“ Julietta verstand nicht, sie ahnte nichts von den Massakern an der Zivilbevölkerung in Mariupol, aber sie nahm die Warnung ernst. Erst nach drei Tagen gelang ihnen mit einer anderen Familie die Flucht in eine Nachbarstadt. Als die russischen Besatzer dort Busse für eine Evakuierung bereit stellten, stieg die Familie ein – und landete in Russland.
„Es gab dort eine Flüchtlingsunterkunft, ich duschte nach drei Wochen zum ersten Mal und habe nur geweint.“ Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB hätten alle Flüchtlinge verhört. „Wir sollten ein Protokoll unterschreiben, in dem stand, dass wir gesehen hätten, wie ukrainische Soldaten Massaker an der Zivilbevölkerung verübten.“ Die Familie weigerte sich – und bekam Angst. Da sie etwas Geld hatten mitnehmen können, riefen sie einfach ein Taxi und ließen sich nach Moskau fahren. „Von dort gelang uns die Flucht über Lettland nach Deutschland.“ Endlich konnte Julietta ihre Tochter wieder in die Arme schließen. Auch ihre Familie ist nun in Sicherheit. „Es gibt kein schöneres Weihnachtsgeschenk.“