Essen. Die Quote stimmt, erste Kritiken waren geradezu euphorisch: ProSieben hat der Sparte Casting-Show mit “The Voice of Germany“ zu neuer Aufmerksamkeit verholfen. Doch die Lobeshymnen zum Staffelbeginn sind übertrieben - und die Sendung wird das Genre nicht revolutionieren. Eine Analyse.
Wer Casting-Shows produziert und bewirbt, darf um Superlative nicht verlegen sein. Geschenkt also, dass nach gut zwei Dutzend Superstars, Supertalenten und Popstars jetzt nichts Geringeres gesucht wird als "The Voice of Germany". Deutschlands Stimme. Gut möglich auch, dass am Ende der Staffel tatsächlich großartige Künstler den Weg ins Rampenlicht gefunden haben. Und, ja: Dass endlich einmal nicht das Fremdschämen über dünne Stimmchen und peinliche Auftritte im Vordergrund steht, ist wohltuend. Entsprechend euphorisch fielen die ersten Kritiken aus.
Eigenlob stinkt
Trotzdem nervt die Show. Sie verspricht mehr, als sie hält. Sie folgt beim Aufbau doch den immer gleichen Casting-Klischees. Und ist deshalb mitnichten die versprochene Revolution des Casting-Genres.
"Die größte Musikshow aller Zeiten" sucht "herausragende Stimmtalente", "die unentdeckten Juwelen" - kurzum: "die Besten der Besten". Klar. Alle Coaches ("Vollblutmusiker"!) loben, dass es in der Show endlich mal um Musik gehe, dass "Menschen mit Respekt behandelt" werden. Ja doch: Botschaft angekommen! Aber die Kandidaten und das Konzept werden nicht besser, nur weil man sie immer wieder lobt. Im Gegenteil. Irgendwann wird's unglaubwürdig. Warum kann ProSieben nicht einfach die Sendung für sich sprechen lassen?
Nur die Stimme zählt?
Denn da ist ja auch noch die Schere zwischen dem, was die Show verspricht und dem, was sie zeigt. "Aussehen, Styling, Background - das alles zählt bei 'The Voice of Germany' nichts", hat der Sender vor der ersten Show versprochen. Und dann das: Da hat in der ersten Folge gerade der erste Kandidat gesungen - und was bekommt er vom Coach zu hören? "Du siehst hammer aus." Anschließend erzählt eine übergewichtige Kandidatin im Einspielfilmchen ausführlich, dass sie gerne zeigen möchte, "dass Mädels, die aussehen wie ich, verdammt noch mal genau so cool und interessant sein können wie alle anderen auch". Wer hat das hier bezweifelt?
Auch die ein oder andere herzzerreißende Personality-Geschichte darf in den Einspiel-Clips nicht fehlen. Da sind sie dann wieder, all die Väter, die sich nie um ihre Töchter gekümmert haben, die toten Omas und Opas, für die ein Kandidat singt. Einziger Unterschied zu DSDS & Co.: Durch den Schicksalsbonus kommt bei "The Voice of Germany" niemand weiter. Die Geschichten könnte sich die Sendung dann aber erst recht sparen.
Wiedersehen mit immergleichen Klischees
Genauso wie die Kandidaten mit ordentlichen, aber keineswegs überwältigenden Stimmen. "The Voice of Germany" ist bisweilen ein Recycling-Becken für gescheiterte (Möchtegern-)Stars. Hätte Sebastian Deyle seine Udo-Jürgens-Nummer auch singen dürfen, wenn er nicht mal bei "Marienhof" mitgespielt hätte? Hätte es Ex-Samajona-Sängerin Sabrina Ziegler auch ohne "Ich war mit meiner Girlband vor zehn Jahren mal in den Charts"-Geschichte auf die Bühne geschafft? Man darf es bezweifeln.
Und so sehr sich "The Voice of Germany" auch von anderen Casting-Formaten abheben will, so sehr strapaziert die Show dann doch dieselben Klischees. Das Rezept für den perfekten Auftritt, es ist überall gleich: Man nehme eine Kandidatin, lasse sie vorab einige Sätze über letzte Chancen, Leidenschaft oder große Träume sagen. Man schicke sie auf die Bühne, untermalt vom bedeutungsschwangeren Soundtrack eines Monumental-Streifens. Sie beginnt zu singen, Close-Up aufs Gesicht, Gegenschnitt auf kritische Jury-Mienen. Zurück zur Kandidatin, dann wieder ein Gegenschnitt: aufs Publikum, wo nach wenigen Takten erste Zuschauer begeistert aufspringen und johlen. Nach dem Auftritt erneute Bildwechsel von der Kandidatin (erleichtert) zur den Coaches (beeindruckt) und zum Publikum (euphorisch), unterlegt mit einer Ballade wahlweise von Leona Lewis oder Kelly Clarkson. Fertig ist das, was später in der Pressemitteilung als "Gänsehaut-Moment" beschrieben werden kann.
Zum Auftakt der Staffel stimmen die Quoten. Spannend wird's, wenn die "Blind Auditions" vorüber sind und die Kandidatenauslese wieder nach bewährtem Casting-Muster voranschreitet. Dann können die Coaches und Produzenten zeigen, ob sie finden, was sie versprochen haben: "echte Künstler" für eine "nachhaltige Musiker-Karriere". Manch einem Talent wäre es zu wünschen.