Essen. „Alter Weg Tag für Tag neu“: Das ist das Leitmotiv, das Lebensmotto von Willy Decker. Denn er ist nicht nur einer der erfolgreichsten Opernregisseure der Welt und Intendant der Ruhrtriennale 2009 bis 2011, sondern auch Schüler des japanischen Zen-Meisters Sasaki Genso Roshi. Ein Portrait.
„Alter Weg Tag für Tag neu“: Das besagt die vierteilige Kalligrafie im Gelsenkirchener Büro von Willy Decker. Denn Decker ist nicht nur einer der erfolgreichsten Opernregisseure der Welt und Intendant der Ruhrtriennale 2009 bis 2011, sondern auch Schüler des japanischen Zen-Meisters Sasaki Genso Roshi. Mit breitem, schwarzem Pinselstrich malte er seinem Schützling diese Zeichen als Wegweiser für die kommenden drei Jahre.
„Alter Weg Tag für Tag neu“ – unter diesem Leitbild will Decker nach dem Urmoment des Religiösen suchen, nach dem geistigen Urstoff menschlicher Existenz. Aufspüren will er ihn in drei unterschiedlichen Kulturkreisen: 2009 in der jüdischen, 2010 in der islamischen und 2011 in der buddhistischen Kultur. Am 15. August startet das dichte Programm aus Uraufführungen, Gastspielen, Lesungen und Konzerten in Industriedenkmälern der Städte Bochum, Essen, Duisburg und Gladbeck.
Intendanz als Chance
Ende April, als wir Willy Decker treffen, ist das Paket bereits geschnürt; „jetzt muss es einfach geschehen“, sagt er. Eigentlich, erzählt Decker, habe er nie Intendant werden wollen. Doch eine Art Schlüsselerlebnis bei der Ruhrtriennale vor zwei Jahren hat ihn umgestimmt: Decker inszenierte „Le vin herbé“ in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord. „Da habe ich eine Intendanz zum ersten Mal als Chance begriffen, das auf die Bühne zu bringen, was mich selbst extrem bewegt.“
Hinzu kam die Faszination der Industriedenkmäler als Spielorte. „Hier zu inszenieren, wo Menschen richtig hart gearbeitet haben, ist einfach etwas ganz anderes als in einem plüschigen Theatersaal.“ Zuerst sei er fast erschrocken gewesen, wie riesig die Räume sind. Ähnlich wie in der Pariser Bastille oder im Salzburger Festspielhaus, wo Decker bereits inszeniert hat, benötige man ein bildnerisches Konzept, das den Blick fokussiert.
Zu den Wurzeln
Für die erste Spielzeit hat Willy Decker ein sehr persönliches Programm entworfen; es steht unter dem Motto „Die Suche nach dem Wort“. Antworten darauf geben Autoren und Komponisten, Regisseure, Schauspieler und Musiker. Der Intendant selbst betrachtet sich als den „roten Faden“, der sich durch das Programm zieht. Manchmal habe er sich zurück nehmen müssen, um die Sprache anderer Regisseure zu akzeptieren. Man mag kaum glauben, dass ihm das zuweilen schwer fällt, denn Willy Decker strahlt eine große Gelassenheit aus.
Seit 15 Jahren ist er praktizierender Zen-Buddhist. Ein stehender Buddha schaut ihm bei seiner Arbeit für die Triennale-Gesellschaft „Kultur Ruhr“ über die Schulter, eine weitere, sitzende Figur thront auf Deckers langem Schreibtisch. Meditation hat ihren festen Platz im Alltag des Intendanten. „Durch Meditation gelange ich zu dem Punkt, wo ich über mich selbst hinausgehe.“ Genau an dieser Stelle, beim Denken am Grunde des Nicht-Denkens, entstehe spontan Kreativität. Die Bereiche des Kreativen und des Transzendenten seien verwandt; beide hätten denselben Ursprung.
„Musik hat andere Möglichkeiten: Sie überwindet die Sprache.“
Decker geht es keinesfalls um die Weltreligionen als Institutionen: „Ich will tiefer schauen zu den Wurzeln des Spirituellen.“ Programmtisch bereits seine Eröffnungsinszenierung, die Oper „Moses und Aron“ von Arnold Schönberg (Premiere am 22. August in der Jahrhunderthalle). „Im brennenden Dornbusch begegnet Moses der Erfahrung des Göttlichen. Was er erlebt hat, soll er den Menschen vermitteln.“ Der Künstler stehe vor einem ganz ähnlichen Problem: Er müsse seine Gedanken in eine für alle verständliche Sprache übersetzen.
Und genau hier kommt der Opernmann, kommt die Musik ins Spiel. „Musik hat andere Möglichkeiten: Sie überwindet die Sprache.“ Decker, Musiker und Honorarprofessor für Musiktheaterregie in Berlin, führt seit über 30 Jahren Regie. Während seiner Intendanz will er die internationale Inszenierungsarbeit deutlich zurückschrauben. Häuslich eingerichtet für die nächsten Jahre hat sich der gebürtige Rheinländer in Essen, wo er zuletzt Anfang der 70er-Jahre als Regieassistent an den Städtischen Bühnen arbeitete. „Verwurzelt-Sein ist wichtig“, betont er.
Willy, mach watt!
Auch Willy Deckers Vorgänger Jürgen Flimm ist Kölner. Er hat die Triennale von 2005 bis 2007 geleitet und 2008, nach dem Tod der designierten Intendantin Marie Zimmermann, in ihrem Sinne weitergeführt. „Jürgen Flimm hat das großartig gemacht“, so Decker. „Er hat einfach zu mir gesagt: ‚Willy, komm und mach watt!‘.“ Damit habe Flimm ihm eine große Freiheit, aber auch eine schwere Verantwortung mit auf den Weg gegeben.
War Decker als Künstler bisher nur für sich selbst verantwortlich, so muss er nun auf vielen Ebenen denken und handeln. „Dieser Herausforderung will ich mich stellen – aber nur für einen begrenzten Zeitraum.“ Allein die Logistik des Festivals mit seinen zahlreichen Spielstätten und Akteuren hat es in sich. Zudem hat die Triennale in wirtschaftlicher Hinsicht schon bessere Zeiten erlebt: Die Lücke, gerissen durch den Rückzug des Hauptsponsors Evonik vor zwei Jahren, konnte noch nicht geschlossen werden. Da Musiktheater naturgemäß kostenintensiver ist als Sprechtheater, muss Decker bei den Produktionen reduzieren – ein „schmerzhafter Prozess“.
Die Messlatte liegt hoch
Als Intendant wird Decker sich daran gewöhnen müssen, nicht nur an Kosten, sondern auch an Besucherquoten gemessen zu werden. Die Messlatte dafür hat Jürgen Flimm mit einer Rekord-Auslastung sehr hoch gelegt. Natürlich seien die Besucherzahlen ein wichtiger Aspekt und Gradmesser, räumt Decker ein, aber Qualität sei das oberste Prinzip. Ein enormer Anspruch angesichts der Auswahl der Stücke! Für seine Eröffnungsinszenierung hat Decker sich eines der schwierigsten Werke der Opernliteratur ausgesucht: „Moses und Aron“ wird für den Regisseur auch zu einer persönlichen Herausforderung.
„Die vorsätzliche Suche nach Spektakulärem ist gefährlich“, kontert Decker unsere Frage nach weiteren Höhepunkten des Programms. Auch im Kulturhauptstadtjahr 2010, seiner zweiten Spielzeit, will er „nicht alle Pfauenräder aufschlagen“.
Besonders gespannt ist Willy Decker in dieser Saison darauf, was Regisseurin Andrea Breth aus Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ macht, und auf „Jerusalem“, ein spektakuläres Konzertereignis: Darin erzählen jüdische, christliche und moslemische Musiker in Texten und Musikstücken von Menschen, die die Geschichte Jerusalems geprägt haben. Für die musikalische Interpretation ist Jordi Savall verantwortlich, ein katalanischer Meister der spirituellen Musik. Decker hat eine Aufführung des Stückes in Jerusalem erlebt und schwärmt: „Da freue ich mich besonders drauf! Savall setzt das musikalisch um, was ich denke: Dass es die Möglichkeit zum Dialog zwischen den Kulturen gibt.“