Essen. Er ist eine Art Autopilot der Musikszene. Was er anpeilt, wo er sich hinbewegt, wurde ansonsten kaum planmäßig angesteuert. Jordi Savall – Gambist, Ensembleleiter, eigenständiger Kopf - ist bei der RuhrTriennale vorne dabei.

// Er ist eine Art Autopilot der Musikszene. Was er anpeilt, wo er sich hinbewegt, wurde ansonsten kaum planmäßig angesteuert. Jordi Savall – Gambist, Ensembleleiter, eigenständiger Kopf, Forscher, der nach verschollenen Noten sucht und originelle Programme komponiert – hat sich vom Mainstream des Musikbetriebs losgesagt, indem er auch ein eigenes Label etabliert hat. Grenzen musikalischer Stile sind ihm fremd. Savall sucht nach Verbindungslinien, über Kulturen hinweg. Bei der Ruhrtriennale präsentiert er sein »Jerusalem-Projekt«.

Offenbar eilt ihm ein Ruf voraus – nur ein Beispiel: Wer nach Gran Canaria reist, will in der Regel Ferien machen. Nicht so Jordi Savall. Der war gekommen, um eine Bibliothek aufzusuchen, in der er Dokumente zur Geschichte der Kolonisation vermutete. Allerdings musste er vor Ort feststellen, dass man Wind von seinem Wunsch nach Einblick bekommen hatte: ein Teil der Bücher war plötzlich verschwunden. Erst mit Hilfe polizeilichen Nachdrucks konnte der fehlende Bestand wieder zugänglich gemacht werden. So ist der Katalane Savall. Nimmt er einmal Witterung auf, lässt er sich nicht mehr beirren. //





Mit Jerusalem und seiner mehr als 3.000 Jahre alten konfliktreichen Geschichte betreten Sie das politische, religiöse und ideologische Zentrum für Abend- und Morgenland. Haben Sie sich die heikle Aufgabe, diesen Brennpunkt musikalisch zu erfassen, selbst gewählt?


Jordi Savall: Die Idee entstand durch die Einladung eines Pariser Konzertveranstalters, den Rahmen setzte ein Festival über die drei monotheistischen Religionen. Da haben wir überlegt, dass Jerusalem ideal wäre. Uns war von Anfang an wichtig, soweit wie möglich, die wichtigsten Zeugnisse aller Völker, Kulturen und Religionen zu berücksichtigen. Der Musik kommt dabei besondere Macht zu, weil sie die grundlegenden Herausforderungen der Menschheit an einem Schauplatz zusammenführt.


Haben Sie dafür selbst in der Heiligen Stadt recherchiert?


Savall: Wir sind für eine Woche nach Jerusalem geflogen, waren dort in Synagogen und Moscheen, auch in mehreren Kirchen. Vor allem aber haben wir viel Musik gehört, um uns inspirieren zu lassen. Danach war uns klar, dass es sehr wohl möglich sei, für eine zeitlich eng umrissene Aufführung genug Material zu finden, um der Heterogenität dieser Stadt und ihrer Bedeutung gerecht zu werden.


Bei der Aufführung Ihres Jerusalem-Abends wird nicht nur Musik gespielt, es werden auch Texte rezitiert. Welche Funktion haben sie?


Savall: Sie sind wie eine kleine Malerei und sollen den historischen Moment illustrieren. Die Musik geht über die Zeitkomponente hinweg, aber die Texte helfen, das Ganze geschichtlich zu verorten und Verbindungen herzuleiten. Sie liefern den konkreten Kontext.

Jordi Savall. (c) 2009 Music Concept
Jordi Savall. (c) 2009 Music Concept © Unbekannt | Unbekannt





Lässt sch sagen, dass die Texte Lernstoff bieten, während die Musik für die emotionale Seite zuständig ist?


Savall: Das Spektrum des Abends ist sehr weit gefasst, da bedarf es einer gewissen Führung für den Hörer. Es gibt beispielsweise den Text eines ganz frühen Pilgers, der seine Eindrücke über Jerusalem schildert; dann eine Rechtfertigung der Kreuzzüge durch Papst Urban II., mündend in der Aussage: »Gott will es so«. Dazu kommt ein Gedicht, in dem Kinder dies- und jenseits der Mauern von Jerusalem spielen. In all den Texten liegt Psychologie verborgen; sie offenbaren, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten gedacht und warum sie so oder so gehandelt haben. Es ist faszinierend zu sehen, dass die Stadt immer noch so lebendig ist wie vor 1.000 oder 2.000 Jahren – und genauso problematisch.


Haben Sie die Quellen für Ihr »Jerusalem« systematisch gesucht oder sich vom Zufall leiten lassen?


Savall: Wir haben insofern systematisch gesucht, als wir alle möglichen Richtungen von Musik abdecken wollten. Natürlich spielt der Zufall immer eine große Rolle, aber hilfreich war vor allem der Kontakt zu Wissenschaftlern. In Deutschland gibt es einen Musikwissenschaftler, in dessen Besitz wir eine zwölfbändige Sammlung mit jüdischen Quellen aufgetan haben, aus der Zeit zwischen 1880 und 1930, die er in Nordafrika und im Orient selbst zusammengetragen hat. Für die arabische Musik waren wir dagegen mehr auf die mündliche Überlieferung angewiesen. Es war ein bisschen wie bei Indiana Jones. Wir haben viel telefoniert, besuchten Aufführungen, die von uns aufgezeichnet wurden, sofern keine Kassetten oder Videos vorlagen.





Sie gebrauchen spezielle Instrumente…


Savall: Ja. Und deren Auffinden war ähnlich. Wir haben uns in Geschäften Instrumente zeigen lassen und sie miteinander verglichen. Kurios ist, dass einige noch genauso gebaut werden wie vor Jahrtausenden. Vergleichbar schwierig war, in den Synagogen auf geeignete Stimmen zu treffen, in denen die Begeisterung hörbar wird. Es ist halt wie in der katholischen Kirche auch – es gibt zu viel Routine.


Welche Rolle spielt die Improvisation?


Savall: Eine sehr große. Es war teilweise unmöglich, eine richtige Partitur zu erstellen, obwohl ich mir vorher von allen Musikern Listen schicken ließ, auf denen der Tonumfang ihrer Instrumente verzeichnet war. Doch die Partitur scheiterte bereits daran, dass nicht einmal die Tonarten zusammenzubringen waren. Einmal war ein F zu hoch, ein As zu tief – es hätte völlig unmusikalisch geklungen. Darauf-hin habe ich, etwa bei den Fanfaren, eine Partitur geschrieben, die vor allem Rhythmen enthielt und jedem Musiker eine Vorstellung über Dy-namik und grob über tiefe, mittlere und hohe Töne gab. Danach haben wir geprobt. Das Grundgerüst bleibt gleich, doch klingt es jedes Mal anders.

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Fühlen Sie sich mit Blick auf Ihr »Jerusalem« als ein politischer Botschafter?


Savall: Nicht wirklich, auch wenn mir bewusst ist, dass jedes Element des Programms Konsequenzen hat: historische, menschliche und politische. Das hat unsere Planung mitbe-stimmt, weniger zu Beginn, wohl aber in der Endphase. Erstmals habe ich mit der Rechen-maschine die Zeiten exakt addiert, um jeder der drei Religionen denselben Raum einzuräumen. Sonst könnte man mir vorwerfen, ich sei nicht objektiv.


Jahrhunderthalle Bochum: 27., 29. und 31. August.

Text: Christoph Vratz / erschienen in K.WEST Ausgabe Juli/August 2009