Essen. In völliger Finsternis servieren blinde Kellner im Essener Dunkelrestaurant ihren Gästen ein besonderes Menü. Ein herausfordernder Selbstversuch.

Vorsichtig balanciere ich das Essen auf meiner Gabel zum Mund. Kurz bevor es sein Ziel erreicht, höre ich ein Platschen auf meinem Teller und die Gabel fühlt sich leichter an als vorher. Mist. Noch ein Versuch. Dieses Mal beuge ich meinen Kopf so weit nach unten, dass meine Nasenspitze fast den Teller berührt. So befördere ich zielsicher ein Stückchen Lachs – ich glaube zumindest, dass es Lachs ist – in meinen Mund. Was genau da vor mir auf meinem Teller liegt, weiß ich nicht. Denn der Raum, in dem ich sitze, ist stockdunkel.

Seit 2007 können Gäste im Essener Dunkelrestaurant „Finster“ ein „Dinner in the Dark“ erleben: Mitten in Holsterhausen servieren sechs blinde oder stark sehbehinderte Kellner ein mehrgängiges Menü in vollkommener Finsternis. Für einen reibungslosen Ablauf sorgen die Köche und Mitarbeiter im Empfangsbereich, welche wiederum gut sehen können. Die insgesamt 20 sehenden und nicht-sehenden Mitarbeiter arbeiten hier Hand in Hand zusammen.

Dunkelrestaurant Essen: Nur ein Wort gibt Aufschluss über serviertes Menü

Was genau auf den Teller kommt, wird vor dem Essen nicht verraten. Die Gäste können zwischen sieben verschiedenen Menüs auswählen, alle haben unterschiedliche Themen. Ob Wild, Fisch, Rind, Vegetarisch oder auch Vegan – nur ein Wort gibt Aufschluss darüber, welche Art von Menü serviert wird. Zudem können die Gäste zwischen drei oder vier Gängen wählen. Drei Gänge kosten zwischen 40 und 51 Euro, vier Gänge zwischen 44 und 55 Euro. Stockfinster- In Essen zeigen Blinde nun Sehenden ihre Welt

Sieben Menüs stehen auf der Speisekarte des Essener Dunkelrestaurants „Finster“. Bei jedem Menü können drei oder vier Gänge gewählt werden.
Sieben Menüs stehen auf der Speisekarte des Essener Dunkelrestaurants „Finster“. Bei jedem Menü können drei oder vier Gänge gewählt werden. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Dass die Besucher erraten müssen, was sich auf ihren Tellern befindet, ist Teil des Restaurant-Konzepts. „Da man plötzlich nichts mehr sieht, muss man sich auf die anderen Sinne verlassen. Der Geschmackssinn spielt natürlich eine wichtige Rolle, aber auch das Riechen und Fühlen hilft den Gästen beim Erraten des Menüs“, erklärt Inhaberin Diana Haneke.

Im hellen Eingangsbereich des Restaurants entscheide ich mich für das Fisch-Menü für 49,90 Euro und werde von Kellner Mahmoud begrüßt. Ich lege Jacke und Tasche ab, auch Handys und Uhren sowie jegliche anderen Lichtquellen sind im Gastraum tabu. Dann betrete ich einen abgedunkelten Vorraum, eine Art Schleuse. Erst als die Tür zum Eingangsbereich geschlossen ist, öffnet Mahmoud die Tür zum stockdunklen Gastraum und ich werde zu meinem Platz geführt.

Herausforderung beim „Dinner in the Dark“ in Essen: Getränk selbst einschenken

Auch wenn ich mich darauf eingestellt habe, im Dunklen zu Essen, überfordert mich die vollkommene Finsternis in den ersten Minuten. Verzweifelt versuche ich, irgendetwas zu erkennen, kneife die Augen zusammen, blinzle. Doch es bleibt alles schwarz. Dafür nehme ich meine Umgebungsgeräusche umso intensiver wahr. Ich höre das Klirren des Bestecks der anderen Gäste, lausche den Gesprächen des Paars am Tisch nebenan. Im Hintergrund läuft leise „Unchained Melody” von den Righteous Brothers.

Nach kurzer Zeit serviert mir Mahmoud die erste Herausforderung: Er stellt eine Flasche Eistee und ein Glas auf den Tisch, einschenken soll ich selber. „Aber wie?“ frage ich lachend und überspiele damit die eigene Unsicherheit. „Einfach machen. Steck den Finger ins Glas, dann merkst du, wenn er nass wird“, rät mir Mahmoud. Es klappt tatsächlich, ohne dass ich etwas verschütte.

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Auf einem Servierwagen, den ich am leisen Klappern beim Schieben erkenne, bringt mir Mahmoud die Vorspeise. Ein Teller steht vor mir und ich habe keine Ahnung, was sich darauf befindet. Ist das Essen fest? Ist es flüssig? Ich taste mit der Gabel den Teller ab, nehme aber schnell die Finger zur Hilfe – sieht doch eh keiner. Ich stoße auf ein Stück Lachs, das ich fest aufspieße, damit nichts runterfällt. Als ich die Gabel in den Mund nehme merke ich, dass das Stück deutlich größer ist als gedacht. Ich muss über meine eigene Unfähigkeit, im Dunkeln zu Essen, lachen, gleichzeitig versuche ich, die riesige Portion in meinem Mund zu kauen. Das Essen ist wirklich eine Herausforderung.

Die Finger ertasten, ob der Teller schon leer ist

Bevor mein Teller abgeräumt wird, taste ich mit den Fingern vorsichtig ab, ob ich auch wirklich alles aufgegessen habe. Mahmoud erzählt mir, es komme oft vor, dass seine Gäste nicht merken, wie viel noch auf ihrem Teller liegt. „Einmal hat ein Mann das Rind-Menü bestellt. Als Highlight wird zur Hauptspeise ein feines Filet serviert. Beim Abräumen habe ich gemerkt, dass fast das ganze Rinderfilet noch auf dem Teller lag. Der Mann dachte wohl, er hat aufgegessen und dabei das Beste liegenlassen.“

Auch wenn ich mich zu meinem eigenen Erstaunen sehr schnell an die Dunkelheit gewöhne und diese sogar als entspannend empfinde, bin ich mit dem Essen weiterhin komplett überfordert. Bei der Hauptspeise fällt mir immer wieder der Fisch von der Gabel, ohne meine Finger geht gar nichts. Aus Frust nehme ich das Fischfilet am Stück in die Hand und beiße ab.

Auch wenn ich die anderen Gäste im Raum nicht sehen kann, bemerke ich, dass auch sie zu kämpfen haben. „Mir ist gerade das Gemüse in den Schoß gefallen“, „Ich finde meinen Löffel nicht mehr auf dem Tisch“, „Ich habe keine Ahnung, was ich da gerade im Mund habe“ – klassische Restaurantgespräche eben.

Blinde Kellner bewegen sich unbeschwert, ich selbst bin völlig überfordert

Immer wieder kommt es zu lustigen Situationen im Restaurant. Als ich gerade auf meine Nachspeise warte, bemerke ich eine Hand an meinem Arm, die sich langsam nach vorne tastet. „Hallo?“ frage ich in die Dunkelheit hinein. „Oh, Entschuldigung. Ich wollte nur wissen, was neben mir ist“, antwortet ein Mann am Tisch nebenan. Seine Frau prustet los und fragt, was passiert sei. Den roten Kopf des Mannes kann ich zwar nicht sehen, aber förmlich spüren.

Der blinde Kellner Mahmoud Dergham führt WAZ-Reporterin Andrea Zaschka bei ihrem Selbstversuch routiniert durch die Dunkelheit.
Der blinde Kellner Mahmoud Dergham führt WAZ-Reporterin Andrea Zaschka bei ihrem Selbstversuch routiniert durch die Dunkelheit. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Trotz der komischen Momente stimmt mich der Restaurantbesuch nachdenklich. In meinem Alltag ist es für mich selbstverständlich, normal sehen zu können, ich denke gar nicht darüber nach, dass es anders sein könnte. Doch als ich plötzlich nichts mehr sehen kann, wird mir bewusst, wie aufgeschmissen ich ohne meine Augen bin. Die Bewunderung für die blinden und sehbehinderten Keller steigt von Minute zu Minute an: Sie bewegen sich so mühelos im Dunklen. Servieren zügig, laufen in die Küche, stoßen nirgends gegen und kommen sich nicht in die Quere. Wahnsinn.

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Nach zwei Stunden werde ich wieder aus dem Gastraum geführt und stehe im Hellen. Das Tageslicht kommt mir unangenehm grell vor, ich sehne mich anfangs zurück in die Dunkelheit. Als ich auf die Uhr gucke, kann ich nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen ist. „Manche Gäste saßen schon vier Stunden bei uns und dachten, es wären maximal zwei Stunden vergangen. In der Dunkelheit verlieren die Menschen das Zeitgefühl“, erzählt mir Diana Haneke.

Das „Dinner in the Dark“ ist ein Experiment, welches die eigene Wahrnehmung der Umgebung verändert. Die Herausforderungen im Dunkelraum sind nicht zu unterschätzen – man sollte sich voll und ganz darauf einlassen und bereit sein, viele Tischmanieren abzulegen.

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