Berlin. Christine und Gianni sind kein Paar und hatten nie miteinander Sex – aber sie haben zusammen ein Kind. Was Co-Parenting ausmacht.
In einem kleinen Berliner Café haben sich Christine Wagner und Gianni Bettucci zum ersten Mal getroffen. Er hatte nur eine halbe Stunde Zeit, musste sich währenddessen noch um Flüge für eine anstehende Reise kümmern. Sie verschüttete vor Aufregung ihren Kaffee über den ganzen Tisch. Trotzdem, sagt Christine, war es ein sehr schönes erstes Date.
Heute, elf Jahre später, haben die beiden gemeinsam ein Kind. Ein Paar sind sie aber nicht – und waren es auch noch nie. Christine ist lesbisch, Gianni schwul. Ihre Elternschaft basiert nicht auf Romantik, sondern auf Freundschaft: Sie leben in einer Co-Elternschaft. So nennt man das Konzept, bei dem Menschen ohne Liebesbeziehung gemeinsam ein Kind großziehen.
Co-Parenting als Alternative zur anonymen Samenspende
Als die beiden sich kennenlernten, war Christine 29 Jahre alt und in einer Beziehung. Sie und ihre Partnerin hatten einen großen Kinderwunsch. „Wir wollten einen echten Vater für unser Kind, also einen, der im Leben unseres Kindes eine Rolle spielt“, erzählt sie.
Da sie im Internet nur auf Seiten stießen, die Samenspenden anboten, gründeten sie ihre eigene Plattform: „Familyship.org“. Dort können sich Menschen mit Kinderwunsch registrieren, die nach einem passenden Co-Elternteil suchen – oder ein anderes Familienmodell im Sinn haben, das über konventionelle Vorstellungen hinausgeht.
Zwei lesbische Frauen, ein schwules Pärchen, heterosexuelle Singles, die nach einer Mutter oder einem Vater für ihr Kind suchen, Männer, die Samen spenden wollen oder sich eine Onkelfunktion im Leben des Kindes vorstellen können: Die Konstellationen sind vielfältig, mittlerweile sind mehr als 14.000 Menschen bei Familyship registriert.
Familyship: Familiengründung übers Internet
„Ich habe schon immer gerne Zeit mit Kindern verbracht und kümmere mich liebend gern um meine Patenkinder. Nun wünsche ich mir selbst ein eigenes Kind. Toll wäre es, wenn Du Lust auf eine Vaterrolle mit geteilter Verantwortung hättest“, schreibt etwa Lina. „Ich bin ein 51-jähriger schwuler Mann, der sich wie 30 fühlt“, lautet Markus Anzeige, der gerne eine „Vaterrolle mit Onkelfunktion“ einnehmen würde.
„Ich möchte gerne ein Kind. Die Zeit, einen passenden romantischen Partner für dieses Abenteuer zu findet, wird jedoch knapp“, schreibt Anna. Wie sie sind zwei Drittel aller Userinnen und User heterosexuelle Frauen, die Single und Mitte oder Ende 30 sind. „Sie haben alle einen großen Kinderwunsch und das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben“, sagt Christine Wagner.
Sie und ihre Ex-Partnerin haben drei Männer „gedatet“, bevor sie Gianni kennenlernten. Einen Theatermanager, sympathisch und „total chaotisch“. Der perfekte Vater für ihr Kind, fanden die zwei Frauen. Doch dann brach ihre Beziehung auseinander. „Ich dachte, jetzt kann ich kein Kind mehr bekommen“, erzählt Christine. „Aber dann kam zum ersten Mal der Gedanke: Na klar geht das, Gianni und ich sind ja sowieso schon zu zweit.“
Ein Jahr lang haben sie sich Zeit gegeben, um zu entscheiden, ob sie wirklich zusammen Eltern werden wollen. Sie gingen Essen und ins Kino, fuhren in den Urlaub, lernten Freunde und Familie des anderen kennen. „Meine Eltern waren total skeptisch, weil ein schwuler Mann in die Familie kommt. Seine Mutter hat angefangen zu weinen, weil sie das auf keinen Fall wollte“, erinnert sich Christine. „Aber als wir uns kennengelernt haben, war allen klar: Das passt.“
Die beiden ließen eine künstliche Befruchtung durchführen. In der Schwangerschaft begleitete Gianni Christine zu allen Frauenarzt-Terminen. Nach der Geburt kam er jeden Morgen vor und nach der Arbeit zu ihr in die Wohnung, um sich um das Baby zu kümmern. Sie haben gemeinsam die Windeln gewechselt, Abendgegessen und ihre Tochter Milla ins Bett gebracht. „Es war eine schöne Zeit, aber ich habe mich schon ein bisschen alleine gefühlt“, sagt Christine.
Co-Parenting: „Für mich ist er eben einfach der Vater meiner Tochter“
Besonders in Situationen, in denen sie von anderen Müttern umgeben war. Zum Beispiel im Rückbildungskurs: „Ich wusste, dass die anderen danach alle zu ihren Partnern nach Hause fahren konnten und am besten noch eine Fußmassage bekommen haben. So lief das bei uns natürlich nicht. Gianni hat mich schon unterstützt, aber dieser emotionale Halt hat gefehlt.“
Gianni ist für sie auch heute, fast zehn Jahre nach der Geburt ihrer Tochter, nicht ihr bester Freund, mit dem sie über alles reden kann. „Ich kenne ihn sehr gut. Ich weiß, wie es ihm geht, sobald er den Raum betritt. Aber für mich ist er eben einfach der Vater meiner Tochter.“
Dass die Co-Eltern sich nicht lieben, die Kinder also nicht anhand ihrer engsten Bezugspersonen erfahren, wie eine Liebesbeziehung aussieht, sehen die meisten Expertinnen und Experten nicht als Problem. Schließlich würden die Kinder auf vielen anderen Wegen erfahren, was Liebe ist und auch die freundschaftliche Liebe ihrer Eltern wahrnehmen.
Was den Co-Eltern hingegen schon vorgeworfen wird: aus Egoismus zu handeln. Sie würden sich den eigenen Kinderwunsch um jeden Preis erfüllen wollen, ohne dabei das Wohl des Kindes im Blick zu haben. Co-Elternschaft sei wie eine Patchwork-Familie mit Ansage. Das stelle insbesondere die Kinder vor viele Herausforderungen, wie etwa wechselnde Bezugspersonen und wechselnde Wohnorte.
Auch Milla hat nicht ein Zuhause: Sie wechselt wöchentlich zwischen ihren Eltern hin und her. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter zogen Christine und Gianni in eine Art WG zusammen, mittlerweile leben sie wieder in unterschiedlichen Stadtteilen in Berlin. Christines Entscheidung, auszuziehen, führte damals zu einem großen Konflikt zwischen den Eltern – den sie nicht alleine lösen konnten. „Wir waren uns nicht einig, bei wem Milla gemeldet sein soll, wo sie zur Schule geht. Da haben wir uns Hilfe geholt. Mediation gehört zu jeder Co-Elternschaft dazu“, erinnert sich Christine.
Co-Parenting als „eine Art, Familie zu leben“
Schwierig werde es auch immer dann, wenn ein Elternteil einen neuen Partner oder eine neue Partnerin kennenlernt und die Routinen der Familie durcheinandergebracht werden. Für Christine ist das aber gleichzeitig einer der größten Vorteile: „Ich bin frei. Auch in der Entscheidung, was meine Liebesaffären und Beziehungen angeht. Ich kann Familie leben und bin noch ein eigener Mensch.“
Trotzdem stehe Milla für sie immer an erster Stelle: „Man ist bereit, viele Strapazen auf sich zu nehmen, damit es dem Kind gut geht.“ Christine habe über die Jahre gelernt, dass man Familie als Prozess verstehen sollte. Menschen, die sich für Co-Parenting interessieren, rät sie vorab eine Kinderwunschberatung zu machen. Mit der Hilfe von Expertinnen und Experten sei es einfacher, die eigenen Gedanken zu sortieren – und zu entscheiden, ob das Modell wirklich das richtige ist. Co-Elternschaft ist schließlich nicht die „rosarote Lösung für alles“, sagt Christine. „Aber es ist eine Art, Familie zu leben.“
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