Essen/Fairbanks. Anke Peterson hat Essen verlassen, um nach Alaska auszuwandern. Welchen Herausforderungen sie sich stellen musste – und wie ihr Alltag heute ist.
Anke Peterson schnürt sich noch schnell die Schneeschuhe um, befestigt die Stirnlampe über der Mütze und packt Wärmekissen in ihre Jackentaschen, dann ruft sie ihre beiden Golden-Retriever. Bei -18 Grad wird jeder Spaziergang mit Ari und Aila zu einer abenteuerlichen Schneewanderung.
Ewiges Eis, wilde Tiere, Einsamkeit und Nordlichter: Bereits vor 25 Jahren hat sich Peterson „mit dem Alaska-Virus infiziert“. Heute lebt die 53-Jährige mit ihrem Mann Dave im Hinterland, in der Nähe der Kleinstadt Fairbanks – 3.452 Kilometer entfernt von Seattle und 6.898 Kilometer von ihrer Heimatstadt Essen. „Der Weg hierhin war lang und mit vielen Umwegen verbunden. Ich würde es Auswandern auf Raten nennen“, sagt sie im Rückblick.
2021: 8000 Deutsche in die USA ausgewandert
Das Vertraute hinter sich lassen, um in der Ferne ein neues Leben aufzubauen: Davon träumen viele Deutsche. Laut statistischem Bundesamt sind im vergangenen Jahr rund 8400 Deutsche in die Vereinigten Staaten gezogen, die damit auf Platz 3 der beliebtesten Ziele deutscher Auswanderinnen und Auswanderer landeten. Der amerikanische Traum, er scheint trotz aller Widersprüche für viele noch nicht ausgeträumt zu sein. Doch wie ist es wirklich, fernab von Freunden und Familie einen Neuanfang im Ausland zu wagen?
Für Anke Peterson war Alaska schon immer ein Sehnsuchtsort. Bereits als kleines Mädchen faszinierte sie der raue Norden, als Studentin fuhr sie in den Semesterferien immer mit dem Zug Richtung Lappland. „Als ich dann das erste richtige Geld verdient habe, bin ich mit meinem damaligen Freund durch Nordkanada bis nach Alaska gereist“, erinnert sie sich. Das war 1996.
Alaska als Sehnsuchtsort für Essenerin
Seitdem kehrte Peterson jedes Jahr zurück. „Irgendwann brauchte ich eine Auszeit vom Job, habe drei Monate unbezahlten Urlaub genommen und bin nach Alaska geflogen, um mal eine längere Zeit dort zu sein“. Im Januar 2006 startete ihr kurzes Abenteuer. Im Februar lernte sie ihren Mann Dave kennen, einen US-Amerikaner. Auch seine Zeit in Alaska war begrenzt, da die Air Force ihn wenige Monate später nach England schickte.
Essen und London? Eine machbare Distanz für eine Fernbeziehung, fanden die beiden. Sie heirateten zwei Jahre, nachdem sie sich kennengelernt hatte. Anfangs arbeitete Anke Peterson noch in Deutschland, stieg jeden Freitag in den Flieger, um Dave zu besuchen.
„Als dann klar war, dass er nur noch ein Jahr in England hatte, bin ich zu ihm nach Thetford gezogen. Wir wollten einmal zusammengelebt haben, bevor wir gemeinsam in die USA gehen“, sagt sie. Denn dass sie sich eine gemeinsame Zukunft nur in Alaska vorstellen konnten, eine Auswanderung für Peterson unumgänglich war,hatten die beiden schon am Anfang der Beziehung beschlossen.
Doch die Air Force durchkreuzte ihre Pläne, schickte Dave erst nach Maryland, dann nach Mississippi. Anke Peterson folgte ihrem Mann trotzdem in die USA – und ließ dafür vieles zurück: Das Haus, das ihr Opa in Essen-Dellwig gebaut hatte, aus dem sie selbst zum Studieren nicht ausgezogen war, und das sie nach dem frühen Tod ihrer Eltern geerbt hatte. Ihren Bruder, ihre Freunde, ihre Patenkinder, die sie nur noch selten sieht. Und ihre Karriere.
Essenerin gibt Karriere auf – für Auswanderung
Anke Peterson arbeitete als Ingenieurin für das einstige Bochumer Nokia-Werk, in einer schnelllebigen Branche, in der man leicht den Anschluss verliert. „Am Anfang ist mir das gar nicht schwergefallen, der Neustart hat mich gereizt, alles war so aufregend. Dann gab es aber eine Zeit, in der mir klar wurde, dass ich raus aus dem Beruf bin und da auch nicht mehr reinkommen werde. Dieser Schritt, sich endgültig von der Karriere zu verabschieden, war wirklich schwer.“ Um sich den Traum vom Leben in Alaska zu erfüllen, stieg auch ihre Ehemann Dave nach 20 Jahren schließlich beim Militär aus.
Mit zwei vollgepackten Autos fuhren die beiden quer durch die USA und Kanada bis Alaska – „ohne zu wissen, wohin genau eigentlich. Wir hatten ganz viele Pläne, aber keinen konkreten.“ Anke Peterson arbeitete als Tour-Guide, bevor das Paar ein „Bed and Breakfast“ eröffnete. Fünf Jahre lang empfingen sie Gäste in ihrem Haus, bis die Corona-Pandemie ausbrach und sie zwang, zu schließen.
Essenerin träumt von Schlittenhunden in Alaska
„Dann haben wir gemerkt, wie viele Freiheiten wir ohne die Gäste haben.“ Seitdem versuchen sie, mit so wenig Geld wie möglich auszukommen, leben vom Ersparten und von Daves Rente und hangeln sich von Nebenjob zu Nebenjob, wenn es finanziell doch mal eng wird. „Wir wollen nicht im Alter denken: Schade, wir hatten so viele Träume, aber haben eigentlich nie wirklich gelebt.“
Einer ihrer großen Träume ist es, eigene Schlittenhunde zu halten. Den Zwinger im Garten wollen sie im nächsten Jahr fertig bauen, bis dahin helfen sie ihren Nachbarn beim Hunde-Training. „Wir lieben es, alleine zu sein. Generell leben hier eigentlich nur Individualisten, die aber füreinander da sind, sobald jemand Hilfe braucht.“
Politisch sind die Petersons allerdings mit vielen Menschen in Alaska „nicht auf einer Wellenlänge“, erzählt Anke Peterson: „Hier leben viele Waffennarren. Was ich auch absolut nicht leiden kann, ist das Trapping, also Fallen zu stellen, um zu jagen. Das ist hier die heilige Kür, da darfst du nichts gegen sagen. Das sind Aspekte, die mir als Urlauber am Lifestyle in Alaska nie bewusst waren.“
Die politischen Entwicklungen und die gesellschaftliche Spaltung in den USA beunruhigen sie generell – ebenso wie die Frage, was passiert, wenn sie oder ihr Mann ernsthaft krank werden sollten. „Da würde ich mich in Deutschland besser aufgehoben fühlen“, sagt sie.
Auswanderin aus Essen: „Heute ist ein Neustart im Ausland viel einfacher als früher“
Noch heute, viele Jahre nachdem sie das Ruhrgebiet verlassen hat, packt sie manchmal das Heimweh. Dann liest sie online die Nachrichten aus Essen oder verabredet sich mit ihren Freunden und ihrer Familie zum Video-Anruf. „Das bringt das Heimatgefühl zurück. Heute ist so ein Neustart im Ausland ja viel einfacher als früher, weil man leichter in Kontakt bleiben kann. Meine Schwiegermutter ist auch ausgewandert, damals noch mit dem Schiff. Für sie war klar, dass sie Deutschland wirklich für immer hinter sich lässt“, sagt sie.
In ihre Heimat zurückzukehren, das kommt aber auch für Peterson – zumindest zurzeit – nicht in Frage, „weil die Lebensweise so anders ist“. Wenn sie von ihrer Auswanderung erzählt, unterscheidet sie zwischen zwei Leben: dem städtischen, abwechslungsreichen und karriereorientierten in Essen. Und dem Leben in Alaska, das dem Rhythmus der Natur folgt. „Ich bin so dankbar“, sagt Anke Peterson, „beide Leben geführt zu haben.“
Weitere Texte aus dem Ressort Wochenende finden Sie hier:
- Psychologie: Warum sich Mädchen komplett überfordert fühlen
- Migration: Wie ein pensionierter Polizist im Problemviertel aufräumt
- Essener Roma-Familie über Klischee: „Wir sind keine Bettler“
- Familie: Hilfe, mein Kind beißt, schlägt, tritt andere!
- Generation Pause: „Man genießt, nicht den Druck zu haben“