Dortmund. Die Zahlen im Keller, selbst überregional steht Dortmunds Schauspiel für Scheitern am Publikum. Dennoch könnte Intendantin Wissert bleiben.
Eine Woche im späten April am Schauspiel Dortmund: Das große Haus hat 492 Plätze. Am Mittwoch, 19.4., gespielt werden soll die Bergbau-Hommage „Unter Grund“. Bis kurz vor der Aufführung liegt die Zahl der verkauften Plätze unter 20 Prozent, am Samstag („Faust“) ebenfalls. Beide Vorstellungen werden dann abgesagt, „krankheitshalber“. Sonntag: „Die Bakchen“, auch hier bleibt der Großteil der Sitze menschenleer wie am Mittwoch darauf – eben erst war Premiere, bei „Onkel Wanja“.
Ein Trauerspiel, aber die, die vor drei Jahren mit dem Ruf einer jungen, in Leitungsdingen als ohne größere Erfahrung geltenden Schauspielchefin einen Coup landen wollten, wissen die Zahlen auf ihre Weise zu lesen. „50 Prozent Auslastung“ feierte unlängst die Grünen-Bürgermeisterin in einer Zeitung, die kostenlos in Supermärkten ausliegt, eine Trendwende der Intendanz von Julia Wissert.
Auslastung schwach: Trendwende am Schauspiel Dortmund kaum auszumachen
Die Zahl stimmt, sie stimmt, weil Statistik eben so geht und man ihr vertraut – solange man nicht ins Theater geht. Diese 50 Prozent gehen so: Ist das große Haus an einem Abend geschlossen, während oben im Studio mit gerade mal 95 Plätzen Büchners „Woyzeck“ läuft (Abi-Stoff) hat das Haus: 100 Prozent. Der Abend „Ihr wollt tanzen“ findet auf der Bühne statt. Platzzahl 30, ausverkauft: 100 Prozent. Im großen Haus schloss man für „Gott des Gemetzels“ den Rang (Begründung des Theaters: „intimerer Rahmen“), nun tauchen dessen Plätze in der Statistik nicht mehr auf.
Die bürgerliche Mitte fehlt, viele Plätze bleiben abendlich frei
Bei den Zahlen, die unserer Redaktion vorliegen, kamen im Zeitraum (er gilt für alle folgenden Beispiele) von August ‘22 bis Februar ‘23 in 106 Vorstellungen 12.263 Menschen, das sind keine 116 pro Abend. Ein Großteil der bürgerlichen Mitte, von hippen Theatermachern gern als Auslaufmodell etikettiert, bleibt schon länger fern; ein anderes ist in nennenswerter Dimension nicht erkennbar. Verpufft auch der mediale Anfangszauber um Wissert, der einst sogar die „Vogue“ auf den Plan rief. 2023 aber nennen überregionale Zeitungen das Theater Dortmund in einem Atemzug mit erodierenden Häusern wie Zürich und den Münchner Kammerspielen. Gemein haben sie das Buhlen um eine Kunst, die traditionelle Formen des Theaters als irrelevant abtut. Gemein haben sie auch: den Misserfolg.
Von der Dramaturgie aus Wisserts Anfangsteam ist niemand in Dortmund geblieben
Das Wegbrechen des Publikums, allzu wenige künstlerische Erfolge, Auflösungserscheinungen hinter den Kulissen (vom Anfangsteam der Dramaturgie wird nach unseren Recherchen zum Ende dieser Spielzeit kein Mensch mehr übrig sein, auch Schauspielerinnen gingen): Es finden sich wenig Gründe, Julia Wissert über ihren Fünfjahres-Vertrag hinaus im Amt zu halten.
Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (SPD, in Machtfülle auch Kämmerer und Stadtdirektor) begrüßt eine Verlängerung (Interview unten). Wissert gilt als sein Schützling. Manche in der Politik ätzen, sein so legendärer Instinkt habe ihn verlassen. Dortmunder Tratsch dagegen klopft den Spruch „Frau Stüdemann hat längst entschieden“, was nicht sehr dezent andeutet, dass Wissert und die Gattin des Dezernenten sich gut verstehen sollen. Jörg Stüdemann dagegen verweist sachlich darauf, dass Wissert keine Haushaltsprobleme habe und ihre Sparte sehr gut dastehe.
Fördermittel statt Einnahmen aus Eintrittskarten, auf Dauer eine riskante Strategie
Das hat einen Grund. Wissert und ihr Team haben sich von Beginn clever an frisch geöffneten Fördertöpfen bedient. Und viele ihrer zentralen Themen von Rassismus über Feminismus bis Diversität sind geradezu gebacken für die aktuelle Bewilligungskultur. Es flossen gehörige Batzen, wie sie etwa das NRW-Kultursekretariat oder die Kulturstiftung des Bundes ausschütten. Deren Chefin Hortensia Völckers (bis Ende 2022) gilt in der Branche als „Wissert-Fan“. „Die hat so viele Sonderprojekte, die braucht eigentlich gar keine Zuschauer und ist trotzdem nicht im Defizit“, sagt der Intendant einer Nachbarstadt über Wisserts Kunst, ohne Publikum als solide Wirtschafterin dazustehen.
Eine trügerische Sicherheit, die eine Mitarbeiterin der Dortmunder Stadtverwaltung gegenüber unserer Zeitung so beschreibt: „Wenn diese Töpfe leer sind, steht die Stadt erst recht vor einem Scherbenhaufen.“ Bis dahin rumpelt das Haus so vor sich hin, bei einer Freikartenvergabe, die das rund 1,7-fache von Oper und Ballett beträgt, bei einer durchschnittlichen Einnahme pro Zuschauer von 10,72€ (2016/17 waren es 19,57€) und mit teils irritierenden Planungsstrukturen. Ein aktuelles Beispiel dafür fällt unserer Redaktion besonders auf. Plötzlich soll Wisserts zweite große Inszenierung der Saison (nach den beim Publikum weitgehend gefloppten „Bakchen“) diesen Mai nicht zur Premiere kommen: „Mama liebt dich“, heißt es, werde verschoben auf 2024/25. Wir fragen nach den Gründen. Antwort: Es sei „ein Recherchestück“, für die „Vorbereitung benötigen wir mehr Zeit“.
Keine Zeit in Dortmund, aber sieben Wochen in Hannover
Zeit, die Julia Wissert eventuell für andere Schwerpunkte brauchte? Der Redaktion ist bekannt, dass die Intendantin fast zwei Monate des ersten Quartals kaum in Dortmund verbracht hat. Denn sie führte anderswo Regie, in Hannover. Auf Anfrage schreibt uns das dortige Staatstheater: „Julia Wissert probierte von Di 24.01.2023 bis zur Premiere am Fr 17.03.2023, also insgesamt etwa 7 Wochen“. Dortmunds Schauspiel bestätigt unserer Redaktion den Zeitraum.
Aufgeheizte Stimmung
Zwei Spielzeiten läuft Wisserts erster Vertrag noch; aber es ist im Theater üblich, im dritten Jahr mit den Intendanten über Perspektiven zu sprechen, auch damit man sich gegebenenfalls früh neu orientieren kann. Es ist nicht leicht, die Chancen für eine Verlängerung einzuschätzen. Wissert war mit einer Mehrheit ins Amt geholt worden, die es nicht mehr gibt. Die Haltung in der CDU ist eher ablehnend, die Stimmung in der Sache aufgeheizt: Als ein Christdemokrat im Ausschuss von Wissert „bessere Zahlen“ forderte, warf ein SPD-Mann das Wort „Rassismus“ ein. Die Grünen gelten als Zünglein, auch wenn die Personalie die Partei spaltet. Nicht wenige sehen die in Wissert gesetzten Hoffnungen enttäuscht, andere kritisieren ihren Stil: „Ihr Haus gilt als empathiefreie Zone“, sagt ein langjähriger Kulturpolitiker der Partei, sieht aber ein: „Es wird sehr schwer für uns, eine farbige Frau abzulehnen. Die Fraktion hat Schiss, dass das auf sie zurückfällt.“
Aktualisierung unserer Berichterstattung: Ende September hat der Rat der Stadt Dortmund mit den Stimmen von SPD und GRÜNEN den Vertrag von Julia Wissert bis 2030 verlängert.
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INTERVIEW ZUM THEMA: FÜNF FRAGEN AN KULTURDEZERNENT JÖRG STÜDEMANN
Sie sollen Interesse haben, Julia Wisserts Intendanz in Dortmund zu verlängern.
Das kann ich mir sehr wohl vorstellen. Ich halte sie für eine intelligente, künstlerisch wichtige Person. Wir haben sie auch ausgewählt, zu fragen, in welchen Formaten sich Theater heute in der Stadtgesellschaft positioniert. Das ist eine Laborsituation, wo wir nicht genau wissen, was am Ende herauskommt.
Was aus diesem Labor herauskommt, würden wir als eine Abstimmung mit den Füßen bezeichnen, es bleiben zu viele Plätze leer. Auch der Kunstrang zeigt aus unserer Sicht bisher wenig Strahlkraft.
Ich habe nie verhehlt, dass mit dieser Personalie ein Risiko verbunden ist. Wen unsere Theater in Zukunft als Zuschauer haben, wissen wir alle nicht. Ob wir mit einem Bildungskanon des 18., 19. und 20. Jahrhunderts gut beraten sind, da bin ich mir nicht so sicher. Der Zuspruch ist ordentlich, aber nicht überragend. Wir sind auf gutem Weg. Grundsätzlich bin ich zufrieden. Wirtschaftlich gilt: Julia Wissert führt ihre Sparte wie eine schwäbische Hausfrau.
Ohne Anerkennung der Kunst durch Zuschauer geht es nicht...
Mit meiner Bewertung bin ich noch nicht am Ende. Was die Versuche mit dem Publikum in den Stadtraum hinein angeht, lässt sich sicherlich das eine oder andere optimieren.
Für Frau Wisserts Verlängerung brauchen Sie eine Mehrheit...
Ob die Politik des Rates mehrheitlich folgt, muss sie herausfinden. Dafür haben wir eine Findungskommission. Es ist bekannt, dass die Haltungen unterschiedlich sind, aber wir sind noch nicht in diesem Beratungsprozess.
Folgt man dem Polit-Klatsch, ist Frau Wisserts Position auch deshalb ungefährdet, weil sie und Ihre Frau sehr gut befreundet sind...
Das ist Quatsch. Meine Frau kennt Frau Wissert genauso wie ich.Interview: Lars. v.d. Gönna