Dortmund. Mit einem stark gekürzten, gekonnt verschlankten „Woyzeck“ glückt in Dortmund mit einer Studio-Produktion der Auftakt der Schauspielsaison.
Erfolge hat Dortmunds Schauspiel-Chefin Julia Wissert bitter nötig. Der ungetrübte Beifall nach der Premiere von Georg Büchners Fragment „Woyzeck“ im Studio des Schauspielhauses dürfte ihr gut getan haben. Auch wenn man sich zum Saisonauftakt mit der kleinen Produktion eines großen Stücks begnügte. Reduziert auf vier Darsteller, durch starke Textkürzungen verschlankt und zu einer bizarren animalischen Travestie transformiert. Dass die Regisseurin Jessica Weisskirchen zudem mit der Szenenfolge freizügig umgeht, ist angesichts der ohnehin vier unterschiedlichen Versionen des fragmentarisch hinterlassenen Stücks durchaus legitim.
Kaum jemand seiner Zeitgenossen hat den aufklärerischen Optimismus über den Menschen als „vernunftbegabtem Wesen“ so scharf in Frage gestellt wie Büchner. Er billigt dem durch Erziehung verbogenen Menschen allenfalls eine „viehische Vernunft“ zu. Anstoß für die Regisseurin, die Menschen zu tierähnlichen Gestalten mutieren zu lassen. In den Kostümen von Günter Hans Wolf Lemke trägt der gedemütigte Woyzeck Züge eines gebeugten und gebeutelten Gürteltiers, der Hauptmann in schwarzer Lederkorsage die eines Hengstes. Der Doktor tritt mit katzenähnlicher und gefährlich leiser Geschmeidigkeit auf und Marie ist nicht nur mit Bart und Hufen einer Ziege ausgestattet, sondern auch mit deren Selbstvertrauen. Sie erweist sich als stärkste Figur der Menagerie, lässt sogar die Peitsche knallen, während der Hauptmann und der Doktor zunehmend in Selbstmitleid versinken und mit Helium-verfremdeten Stimmen zu jammernden Comic-Figuren schrumpfen.
Shakespearescher Monolog über Gott und die Welt
Und Woyzeck dümpelt wie ein Reptil durch eine Welt, die nur Gefahren, Demütigungen und keine Prise Sicherheit oder Liebe birgt. Gipfelnd in der Jahrmarktszene, wenn er, eingesperrt in einem zum Erbsenspender umfunktionierten Popcorn-Automaten, sein Dasein fristet. Das alles spielt sich auf einer drehbaren, von Eisengittern umzäunten Scheibe ab, in der die Figuren wie in einem Hamsterrad gefangen sind. Und zwar in greifbarer Nähe zum Publikum.
Da Büchner für sein pessimistisches Weltbild ohnehin typisierte Figuren, wenn auch die der Commedia Dell‘arte, vorschwebten, wirken die animalischen Transformationen der Inszenierung überzeugender als erwartet. Leider nicht bis zum bitteren Ende, das die Regisseurin sinnentstellend verfremdet. Woyzeck bekommt keine Chance sich aufzubäumen. Der Mord an Marie fällt aus. Stattdessen rezitiert Marie eine aus vielen Textstellen montierte Collage über Gott und die Welt, die zunehmend die Bedeutungsschwere eines Shakespeareschen Monologs annimmt, wodurch Büchners scharfe, distanzierte Perspektive aufgegeben wird. So eindringlich Linda Elsner dieses Text-Konvolut vorträgt: Sie kann nichts dafür, dass das Stück einen unangemessen pathetischen Zungenschlag erhält.
Ekkehard Freye, Nika Mišković, Raphael Westermeier und Linda Elsner überzeugen
Insgesamt eine diskutable, originelle, handwerklich sauber gearbeitete Produktion mit einem überzeugenden, allerdings nicht konsequent ausgeführten konzeptionellen Ansatz. 80 Minuten führen die vier Darsteller eine virtuose Revue voller Tempo, Intensität und schneller Stimmungs- und Rollenwechsel aus. Auf gleichem Niveau wie Linda Elsner als Marie präsentiert Ekkehard Freye einen Hauptmann, dessen martialische Fassade wie ein defekter Luftballon zusammenschrumpft. Nika Mišković fährt als scheinbar sanft auftretender Doktor ihre Krallen aus und Raphael Westermeier trägt mit vorbildlicher Standfestigkeit die Last seines Daseins wie Atlas die Weltkugel.
Lang anhaltender Beifall für einen recht geglückten Auftakt der Dortmunder Schauspielsaison.