Dortmund. Im Theater Dortmund verirrt sich Tschechows „Onkel Wanja“ ins Büro. Ekkehard Freye und das Ensemble bringen trotzdem Gefühle zum Leuchten.
Fast 130 Jahre hat Anton Tschechows wundervolle Tragikomödie „Onkel Wanja“ inzwischen auf dem Buckel, in gediegenen Landhäusern wurde sie ebenso oft gespielt wie vor aufgemalter Birkenwaldkulisse. Doch was der britische Regisseur Rikki Henry dem Stück in seiner ersten Arbeit am Dortmunder Schauspiel zumutet, hat Seltenheitswert: Bei ihm wird der gutmütige Onkel zum Bürohengst.
Meterhohe Berge aus Papier lässt Bühnenbildnerin Emma Bailey an den Rändern ihres tristen Lagerraums aufragen. Dauernd klingelt ein Telefon, einer wälzt Akten, jemand hämmert und bohrt, die nächste steht ungeduldig am Kopierer. Zum Glück ist der Wodkavorrat in dem abgehalfterten Kühlschrank gut bestückt, sonst würde Tschechows melancholischer Liebestaumel, der nicht umsonst den Untertitel „Szenen aus dem Landleben“ trägt, wohl gar nicht recht in die Gänge kommen. Denn wer will schon freiwillig und länger als nötig in solch einer ranzigen Amtsstube zubringen?
Für „Onkel Wanja“ muss sich das Dortmunder Ensemble ganz schön strecken
Der überraschende Schauplatzwechsel wirkt wenig schlüssig, weil gar nicht klar wird, warum Wanja sein Herz ausgerechnet an diese Bürohöhle hängt und sie am Ende mit den beiden jämmerlichsten Fehlschüssen der Theatergeschichte sogar ehrenvoll zu verteidigen versucht. Dabei erzählt Tschechow in seinem fulminanten Vierakter so viel Trauriges, aber auch Beglückendes über die verpassten Chancen im Lebens und das Leid unerfüllter Liebe. Das Dortmunder Ensemble muss sich ganz schön strecken, um derlei Gefühle in diesem völlig verunglückten Setting zum Leuchten zu bringen.
Immerhin: Es gelingt ansehnlich. Mit schmerzlicher Eleganz läuft Ekkehard Freye in der Titelrolle zu Hochform auf. Als dauernden Nörgler sah man ihn schon oft, doch wie er als redlicher Gutsverwalter „mit 51 Jahren“, die wie ein Vorwurf klingen, langsam in die Midlife-Crisis abrutscht, weiß zu berühren. Die Tschechowsche Melange aus Melancholie, Wut und Machtlosigkeit ist schwer zu treffen, Freye meistert sie beachtlich.
Julia Wisserts Ensemble ist jung und divers, hat aber wenig alte Männer
Für die Rolle des alternden Professors Serebrjakow, der in Begleitung seiner jungen schönen Frau Jelena (Sarah Quarshie) dem dritten Frühling entgegenfiebert, ist Linus Ebner viel zu jung. Hier rächt es sich wohl, dass sich in dem divers aufgestellten Ensemble der Dortmunder Schauspielchefin Julia Wissert kaum ältere Herren finden. Mit einigem Charme und geschicktem Einsatz einer Sonnenbrille holt Ebner dennoch viel aus dem weinerlichen Alten heraus.
Zur schönsten Szene des Abends kommt es bei einem Rendezvous am Tageslichtprojektor: Die schüchterne Sonja und der Arzt Astrow knüpfen zarte Bande, indem sie sich mit kindlicher Freude Käsestücke in die Nase und in die Ohren schieben. So albern das aussieht, es ist bezaubernd gespielt. Nika Mišković gibt ihrer Figur eine Menge Überschwang und Enttäuschung, während der Astrow des Alexander Darkow ganz der flammende Weltverbesserer bleibt.
Viel Beifall im bestens besuchten Saal.