Dortmund. Goethes „Faust“ wird in Dortmund auf Fußballspiellänge gekürzt, umgestellt und angedeutet. Mit einer starken Margarete, gespielt von Marlena Keil.
Goethes „Faust“, der Literaturklassiker schlechthin, hat es als dritte Premiere der noch jungen Intendanz von Julia Wissert auf den Spielplan des Schauspiels Dortmund geschafft, doch besonders festlich ist an diesem Abend niemandem zumute. Der nächste Lockdown drückt die Stimmung, wann die Aufführung überhaupt wieder gezeigt werden kann, ist ungewiss. Dann meldete sich Regisseurin Mizgin Bilmen vor einer Woche krankheitsbedingt ab, Wissert und Dramaturgin Kirsten Möller übernahmen die Proben. Es sei „kein Corona“, betont die Theatersprecherin eilig. In diesen Tagen sind das wichtige Informationen.
Keine guten Vorzeichen also, und doch scheint die Aufführung gerade aus den Widrigkeiten und Unsicherheiten dieser Zeit eine bemerkenswerte Kraft zu ziehen. Was hier in rund eineinhalb Stunden gespielt wird, ist kein „Faust“ im klassischen Sinne. Die Goethe-Puristen und Liebhaber des wunderbaren Klangs seiner Dichtung dürften sogar ziemlich enttäuscht sein, denn vieles wird nur vage angedeutet, umgestellt oder geht komplett unter.
Monströse Projektionen wie von Jackson Pollock
Was diesen Abend indes auszeichnet, ist seine pulsierende Energie mit einem Rausch aus Licht, Farben und dröhnenden Beats. Die riesigen weißen Wände im Bühnenbild von Tobias Hoeft zeigen monströse Projektionen, die an die überbordenden Action Paintings von Jackson Pollock erinnern. Getreu dem Motto „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ rührt Mizgin Bilmen so lange fremde Texte von Donna Haraway bis Heiner Müller unter, bis vom guten Heinrich nicht mehr als die Legende übrig bleibt.
Und da steht er nun, der arme Tor: Der Faust des Linus Ebner steigt eine lange Treppe hinunter und wirkt dabei gehetzt, fast fiebrig nervös. Faust hat sich in seinem kalten Betonbunker verkrochen und bewirft die Wände mit digitaler Farbe, denn oh Wunder: Dieser Doktor ist kein gequälter Gelehrter, sondern Bildender Künstler. Der Teufel hat sich da längst in Stellung gebracht. Die erstaunlich agile Antje Prust spielt ihn genüsslich in einem durchsichtigen Netzanzug, ihr Pudel ist ein kläffender Kampfköter. Nie von ihrer Seite weichen die „Zwillinge“ (Lola Fuchs und Mervan Ürkmez) als weitere, etwas dick gezeichnete Spielarten des Bösen, die von Goethe natürlich nicht vorgesehen waren, aber das aggressive Spiel gekonnt nach vorn treiben.
Marlena Keil ist eine in jeder Hinsicht starke Margarete
Mit der Ankunft von Margarete erfährt die Inszenierung ihre entscheidende Wendung. Wie Marlena Keil in ihrem dunkelblauen Faltenkleid plötzlich dasteht und mit großen Augen die heilige Einfalt verkörpert, ist ein ganz starker Auftritt. Doch gleichsam, und das ist das Kunststück, ist ihre Margarete auch eine gestandene Frau, die trampelt, flucht und „Scheiße“ brüllt. Wenn sie „am Spinnrade allein“ über ihre Liebe zu Faust sinniert („Meine Ruh‘ ist hin, mein Herz ist schwer“), kommen ihr Goethes Verse nur äußerst widerwillig über die Lippen.
So wird diese Grete zum Kraftzentrum eines Abends, der mit seinem vielen Versatzstücken etwas überfrachtet wirkt, dafür aber formidabel gespielt ist. Viel Beifall.
Dauer: ca. 100 Minuten ohne Pause. Termine: 0231/50 27 222.