Dortmund. Desaströse Auslastung, sinkender Zuspruch, jede Menge Freikarten: Dortmunds Schauspiel-Intendantin Julia Wissert hat Ärger – und nimmt Stellung.
Wann hätte je eine Personalie Dortmunds kleines Schauspiel medial derart beflügelt? Es gab ein Interview in der „Süddeutschen“ („die erste Schwarze, die ein deutsches Stadttheater leitet“), später bat die „Vogue“ zum Gespräch. Keine zwei Spielzeiten nach Amtsantritt aber regiert Katerstimmung. Die Besucherzahlen? Eine Katastrophe. Die Politik? Rückt von der einstigen Vorzeige-Frau ab. Und nun hat Julia Wisserts Stellvertreterin ihr Amt „ab sofort“ niedergelegt.
Chefdramaturgin Sabine Reich tue dies „aus persönlichen Gründen“, heißt es in einer uns vorliegenden Mail der Theaterleitung an Mitarbeitende. Seltsam nur, dass ein rein persönlicher Grund in derselben Mail begleitet wird von der Mitteilung, man habe festgestellt, dass durch die Trennung „das Gespräch leichter“ werde.
„Sie werden sehr viel lernen!“
„Sie werden sehr viel lernen und hinterher einen fantastischen Absprung haben!“, soll Kulturdezernent Jörg Stüdemann (SPD) bei Amtsantritt zu Julia Wissert gesagt haben. Gelernt haben muss sie zuletzt, dass ihr Theater, das Repertoire-Säulen von Molière bis Brecht meidet, sich aber mit Leidenschaft, gar eigenen Festivals, Multikulturellem, der LGBTQ-Bewegung und dem Feminismus widmet, von einem Großteil des Publikums kaum angenommen wird. Freikartenbereinigt ist die Auslastung (Spielzeiteröffnung 2021 bis Ende Dezember) auf rund 22 Prozent eingebrochen – und das bei Corona-Sitzordnungen, in denen (sonst 493) teils gerade mal 200 Plätze blieben – das wären durchschnittlich 44 zahlende Besucher am Abend.
Da sind aber noch die Freikarten: Sie gehen unter Wisserts Intendanz überaus flüssig über den Tisch, weit mehr als im benachbarten, recht erfolgreichen Opernhaus. Im besagten Zeitraum sind es nach Zahlen, die unserer Redaktion vorliegen, stolze 1233, ein Anteil von rund 19 Prozent an allen vergebenen Karten. Das pushte die Auslastung auf gut 27 Prozent. Auffallend: Am Tag ihrer eigenen Premiere von „Der Platz“ (29.10.) sind von 245 Karten 148 Freikarten! Es ist das viel beachtete Wochenende der „Ruhrbühnen“. Wollte Wissert eine Blamage vor leeren Reihen vermeiden?
„Dogmatischer als mancher alte weiße Mann“
Dass es auch intern knirscht, lässt uns ein langjähriger Mitarbeiter wissen. „Dogmatischer als mancher alte weiße Mann, der hier Intendant war“, zeige sich Wisserts Führung, die sich doch das Ziel eines radikal demokratischen Theaterbetriebs auf die Fahnen geschrieben hatte.
Dabei begann es alles andere als transparent. Vor der „Faust“-Premiere zu Wisserts Antritt wird die Regisseurin Mizgin Bilmen in einer Mitteilung an die Presse „krank“ genannt. Wissert inszeniert den Klassiker in ein paar Tagen zu Ende. Überraschenderweise ist Bilmen nicht so krank, dass sie sich nicht auf dem Internetportal „Nachtkritik“ äußern kann: „Bedauerlicherweise muss ich mich leider in vollstem Umfang von dieser Arbeit distanzieren, da sie absolut nichts mit meiner Auffassung von Theater oder Leben zu tun hat.“ Die Redaktion von Nachtkritik prüft den Absender. Es ist die Regisseurin.
Mitglieder des Kulturausschuss wurden stutzig
Mitunter stolpern Menschen, die im Großen alles anders machen wollen, über Kleinigkeiten. Dortmunds Kulturausschuss wird stutzig, als Wissert den üblichen Bericht zur Lage ihrer Sparte nicht einreicht. Sie wird im März geladen, zeigt sich, so Vorsitzender Sascha Mader (CDU), „sehr reumütig“, nennt die Pandemie als Grund für die Säumigkeit. Dann aber nutzt die Runde die Gelegenheit, nachzuhaken: Längst ist erkannt, dass Wisserts Angebot eine sehr übersichtliche Nachfrage gegenübersteht. Ob auch das, was man „klassisches Schauspiel“ nennt, angeboten werden soll, wird Wissert gefragt. „Sie hat angedeutet, dass sie auf die Kundenwünsche reagieren will“, erinnert sich Mader. Nun will er Taten folgen sehen: „Wenn die Zahlen zu schwach sind, erwarten wir von der Intendanz ein Nachsteuern – das ist die ganz normale Systematik in einem Management-Kreislauf.“
Wird die dritte Spielzeit eine Wende bringen? Eine altgediente Kulturpolitikerin der Grünen ist pessimistisch: „Ich sehe unter dieser Intendanz wenig Chancen für eine Wende zum Guten. Es fehlt an künstlerischem, auch an handwerklichem Potenzial.“ Optimistischer der, der sich einst für Julia Wissert starkmachte: Jörg Stüdemann, auch Kämmerer und Stadtdirektor, glaubt an die „Neuorientierung des Hauses“. Blind für die Lage ist er nicht: „Das Problem ist präsent. Wir sind mit der Theaterleitung im Gespräch und haben wohlwollend gesagt: ,Leute, Ihr müsst aufpassen!’“
Übrigens gab unsere Recherche auch dem für seine traditionell leidenschaftliche Unterstützung bekannten Förderverein „Dortmunder für ihr Schauspiel“ Gelegenheit, Julia Wisserts Wirken einzuordnen. Man lehnte – überaus freundlich – dankend ab.
„Unser Ziel ist es, Karten zu verkaufen“: Intendantin Wissert nimmt Stellung
Bei einem Besuch gaben wir Julia Wissert (38) Gelegenheit, zu den Problemen Stellung zu nehmen. Wir fragten, was angesichts der extrem schwachen Besucherzahl „falsch“ an ihrem Theater laufe. „Ich würde die Frage anders stellen“, entgegnet Wissert: „Wie hören wir anders auf das Publikum?“ Es sei „eine Vorstellung in der Stadt entstanden, unser Programm habe nichts mit ihnen zu tun und ist nicht für alle gedacht. In diesem Punkt werden wir unsere Kommunikation verbessern. An meinem Auftrag, dass die Vielschichtigkeit der Dortmunder Gesellschaft im Theater Raum finden soll, will ich festhalten.“
Zur Freikartenvergabe: Allein das große Haus ist rechnerisch von September bis Ende Dezember zweieinhalb Mal komplett allein mit Freikarten gefüllt worden. Wissert: „Die Zahl ist mit Sicherheit hoch, das wird sich in der kommenden Spielzeit verändern. Unser Ziel ist es, Karten zu verkaufen“.
Wir sprechen Wisserts Premiere „Der Platz“ am Wochenende der „Ruhrbühnen“ an – dort war die Zahl der Freikarten etwa 50 Prozent höher als die der verkauften: „Wir haben im Herbst ein durch Corona weiterhin zurückhaltendes Besucherverhalten bei Veranstaltungen festgestellt und wollten durch dieses Angebot Kooperationspartner und interessierte Vereine gewinnen.“
Zu Stimmen von Mitarbeitern, Wisserts Führung sei „dogmatisch“. „Ich möchte für meine Kolleg*innen auf keinen Fall dogmatisch sein und wünsche mir offene Gespräche.“
Zu der für „krank“ erklärten Regisseurin jenes „Faust“, den Wissert dann zu Ende inszenierte: „Das war die Sprachregelung, auf die Frau Bilmen und ich uns gemeinsam geeinigt haben.“
Auf die Frage nach dem Rückzug ihrer Stellvertreterin verwies Julia Wissert direkt an Sabine Reich. Von dieser wurde uns ein Gespräch über ihre persönlichen Gründe in Aussicht gestellt. Dieses Angebot zog Frau Reich dann einen Tag später zurück.