Essen. Bestes Lesefutter: „Lektionen“ zeigt nach längerer Zeit Ian McEwan wieder auf der Höhe seiner Kunst. Ein Roman, der gegen den Strom schwimmt.
Roland Baines ist Jahrgang 1948 wie sein Autor und ebenfalls in Hampshire geboren. Indem Ian McEwan diesen durchhaltestarken Fatalisten durch die Zeit stolpern lässt, die auch ihn prägte, beglaubigt er seinen Roman. Und der zeigt den Schriftsteller nach drei durchwachsenen Prosabüchern endlich wieder auf der Höhe seiner Kunst. Diese opulenten „Lektionen“ sind unwiderstehliches Lesefutter.
Europäische Zeitgeschichte ab dem Zweiten Weltkrieg und ein psychologisch meisterlich entwickelter Figurenpark, in dem sich McEwan für jeden der Auftretenden ausführlich Zeit nimmt, um Abgründe und Motive herzuleiten und zu verschränken, konturieren sein Opus, das an keiner Stelle langweilig wird.
„Wo es Menschen gibt, da ist auch ein Tatort“, weiß irgendwann ein Polizist, der diesen Roland Baines drängt, vielleicht doch etwas von dem zu Protokoll zu geben, was ihn Jahrzehnte zuvor zu einem anderen machte. Erst vierzehn war er, als die ein Dutzend Jahre ältere Klavierlehrerin den talentierten Pianisten verführte. Was über Monate immer wieder wie ein wahr gewordener Traum war, ließ ihn die Schule abbrechen und prägte nicht nur deswegen sein späteres Leben abseits der vorgefertigten Laufbahn.
Roland Baines als Tennislehrer, Barmusiker und Gelegenheitsschreiber
Vom Fallen nach dem Fühlen ist im vorangestellten Motto aus „Finnegans Wake“ die Rede, von den Fragmentierungen eines Lebens dann im Fortgang des handlungsprallen Romans: „So geht Ordnung in Chaos über und niemals umgekehrt.“ Immer kommt es anders …
Jedem seiner Talente geht Roland Baines gerade in dem Maße nach, dass es für ein Auskommen reicht – als Tennislehrer, Barmusiker und Gelegenheitsschreiber. Das ist auch unbedingt notwendig, denn bald nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Lawrence hat seine Frau Alissa beide verlassen. Wieder so ein Fallen nach dem Fühlen. Sie ist das Einzelkind einer Journalistin, die am Ende des Krieges abenteuerlustig auf den Spuren der Weißen Rose in München eine der Randfiguren dieser Gegenbewegung kennenlernte. Bald nach dem Krieg wurde sie schwanger und begrub in einer deutschen Wirtschaftswunderfamilie ihre Talente.
Ian McEwan folgt dem alleingelassenen Roland Baines durch sein formloses Leben, das der Erziehung des Sohnes gilt. Er folgt ihm durch die Verwerfungen der Jahrzehnte des Kalten Krieges, rückt Tschernobyl, Falkland, Dissidenten in Ostberlin, Aids und die Mondlandung ins Bild und lässt Baines immer weitermachen. So wird der zu einer Figur, die man nicht mehr vergisst.
Die Freude an der menschlichen Vielfalt
Ian McEwans hat exakt den Roman zur ratlos machenden Zeit geschrieben, in der wir heute leben. Der ist prall voll von „Dickens’ Freude an der menschlichen Vielfalt“ und macht das, was nur große Literatur kann: fesselnde Geschichten erzählen, die sich gegen die viel zu schnellen digitalen Wahrheiten stemmen und so erheblich mehr zu sagen haben.
Da gibt es so viele lebensweise Begegnungen zwischen Menschen, so viel Spannung, wenn Verwerfungen ihre die Biografien prägenden Spuren hinterlassen, die McEwan plausibel macht. Noch kein Autor ist so nah und nobelpreisverdächtig an die unsere Zeit zusammenfassende Frage gekommen: „Wie … waren wir alle, Stunde um Stunde, innerhalb einer Generation vom erregenden Optimismus des Berliner Mauerfalls zum Sturm auf das US-Kapitol gelangt?“ Endlich ein Roman, der gegen den Strom unserer versimpelnden Wahrheiten schwimmt.
>>> Ein Held mit verbrannten Tagebüchern <<<
Schriftsteller wäre er gern gewesen. Mit seinen Tagebüchern, die er endlich verbrennt, hatte Ian McEwans jüngster Romanheld Baines sein Projekt. Doch: „Pflicht eines Schriftstellers sei es, sich an den Schreibtisch zu setzen und sitzenzubleiben“, hatte Seamus Heaney gewusst. Roland Baines hat das wegen seiner Verpflichtungen nicht gekonnt.
Dieser empfehlenswerte Roman ist jetzt im Diogenes Verlag erschienen. „Lektionen“ hat 714 Seiten und kostet 32 Euro.