Was tun Schriftsteller, wenn sie wütend sind? Schreiben. Brite Ian McEwan lässt in der Brexit-Satire „Die Kakerlake“ den Gefühlen freien Lauf.

Wut und Schmerz sind wunderbare Antriebskräfte. Wie viele Songs sind der Ex-Liebsten hinterher gebrüllt, wie viele Kunstwerke aus Trotz geschaffen worden? Der britische Schriftsteller Ian McEwan (71) schüttelt in seiner Satire „Die Kakerlake“ fassungslos den kreativen Kopf über die politischen Zustände in seiner Heimat – die ihm offenbar so kafkaesk schienen, dass er umgehend auch die Literaturgeschichte auf den Kopf stellte. Und so kommt es, dass eine unbescholtene Kakerlake „aus unruhigen Träumen erwacht“ und sich in eine „ungeheure Kreatur“ verwandelt sieht: in den britischen Premierminister.

Bei Ian McEwan heißt Kafkas Käfer „Jim Sams“

Was Kafka Gregor Samsa war, ist McEwan Jim Sams: Pures Entsetzen, pures Staunen über das Erwachen im falschen Leib, der in diesem Fall in einer „grotesken Umkehrung“ das verletzliche Fleisch außen am Skelett trägt. Bald aber hat Sams sich an die Zweibeinigkeit ebenso gewöhnt wie an die Macht, die Welt zu verändern. Die Ränkespiele der Politik, die Debatten, Reden, Abstimmungen und die ungehemmte Nutzung alternativer Fakten zeichnet McEwan lustvoll und böse nach. In seiner Satire will sich Großbritannien nicht aus Europa verabschieden, sondern aus dem Wirtschaftssystem. Der Reversalismus will den Geldfluss umdrehen: Wer arbeitet, zahlt dafür. Wer einkauft, bekommt Geld. Sparen ist verboten und wird mit Negativzinsen bestraft.

Jim Sams und sein Kabinett – ebenso wie er rechtschaffene Kakerlaken in Menschengestalt – wollen Großbritannien im Alleingang ins neue, bessere System führen, aus „schmählicher Knechtschaft“ heraus und zu einer „tiefen, erhebenden Selbstachtung“. Kommt uns diese Rhetorik irgendwie bekannt vor? Seinen Meister findet Jim Sams im US-Präsidenten, dessen Fingerfertigkeit beim Twittern er ebenso bewundert wie dessen Skrupellosigkeit in finanziellen Fragen.

Boris Johnson trifft auf Donald Trump – und ist voller Bewunderung

Ein Landsmann McEwans hat Donald Trump im vergangenen Jahr bereits eine eigene Romansatire gewidmet: Howard Jacobsons „Pussy“ aber blieb der absurden Realität stärker verpflichtet als McEwan, der literarisch gesehen aufs Ganze geht. Was beide eint, ist der durchleuchtende Blick auf politische Manipulationsversuche. Tote britische Fischer in französischem Hoheitsgewässer eignen sich ebensogut wie falsche Erinnerungen an unfreiwillige Körperkontakte vor 30 Jahren, um Gegner auszuschalten und Volkes Stimmung kippen zu lassen.

Am Ende bringt uns McEwan gar ein schönes Detail der britischen Parlamentstradition nahe – was uns einmal mehr vor Augen führt, wie fragil und anfällig demokratische Prozesse sind. Nicht Kakerlake, aber Vogel Strauß möchte da man sein.

Ian McEwan: Die Kakerlake. Diogenes, 112 Seiten, 19 €