Essen. Wie haben Sie vom Mauerfall erfahren? Leser erinnern sich und berichten aus Taiwan, vom „Traumschiff“ auf Kuba und einer Berliner Partynacht.

Günter Schabowski blättert etwas ratlos in seinen Unterlagen. „Ab sofort“ gelte die neue Reiseverordnung für DDR-Bürger – „unverzüglich“. Unabsichtlich „öffnet“ der DDR-Politiker damit am Abend des 9. November 1989 die Berliner Mauer. Grenzbeamte können dem friedlichen Freiheitsdrang der Tausenden nichts mehr entgegensetzen und wollen es vielleicht auch gar nicht.

Als vor 30 Jahren in Berlin die Mauer fiel, waren auch WAZ-Leser dabei. Sie haben uns geschrieben und erzählen, wie sie ganz persönlich die Wende erlebt haben. Von Verwandten, die sich endlich wieder in die Armen schließen können. Von Geschäftsreisen, die plötzlich nur ein Ziel haben: das Brandenburger Tor. Von Reisen nach Kuba und einer spontanen Party mit Ost- und Westdeutschen auf dem ZDF-„Traumschiff“. Von übermütigen Mauerspechten und langen Spaziergängen durch die 28 Jahre lang geteilte Stadt.

Lesen Sie die Geschichten unserer Leser in voller Länge. In den Aufklappboxen finden Sie noch weitere Erzählungen. Viel Spaß beim Erinnern!

30 Jahre Mauerfall – Unsere Leser erinnern sich

Von lahmer Westberliner Disko zur Party an der Mauer

Polizisten beobachten, wie Berliner die Mauer erklimmen, die 28 Jahre lang die Stadt geteilt hatte.
Polizisten beobachten, wie Berliner die Mauer erklimmen, die 28 Jahre lang die Stadt geteilt hatte. © Sygma via Getty Images | Régis BOSSU

Matthias Grzib aus Mülheim schreibt: «Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war ich Zivildienstleistender in einem Altenheim in Duisburg Meiderich. Ich war 20 Jahre alt. Rund sechs Monate vorher hatte ich mit zwei Zivildienstkollegen einen einwöchigen Urlaub in Berlin gebucht. Durch Zufall war ich also zum Zeitpunkt des Mauerfalls in Berlin.

An dem besagten 9. November fuhren wir zum Kurfürstendamm, wo wir eine Diskothek besuchten. Als wir gegen 0 Uhr recht gelangweilt diese Einrichtung verlassen wollten, strömte plötzlich eine Menschenmasse durch den Eingang, begleitet von der Lautsprecherdurchsage, dass die Grenzen zu Ostdeutschland offen seien und man die Gäste aus Ostdeutschland herzlich willkommen heiße.

Sofort kippte die Stimmung ins Positive. Wir spürten sofort, dass wir Zeugen eines ganz besonderen geschichtlichen Ereignisses sein durften. Die Erleichterung und Ausgelassenheit der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger steckte sofort an. Wir feierten miteinander bis in die frühen Morgenstunden.

So genannte „Mauerspechte“ brachen Stücke aus der Berliner Mauer heraus.
So genannte „Mauerspechte“ brachen Stücke aus der Berliner Mauer heraus. © Corbis via Getty Images | Roger Hutchings

Am Abend zog es uns dann ans Brandenburger Tor, wo wir die Mauer bestiegen und die aufgereihten DDR-Polizisten nebst der Wasserwerfer sahen. Unwillkürlich kamen mir die Bilder aus China von der Räumung des Platzes des himmlischen Friedens in den Sinn. Werden die DDR-Sicherheitskräfte die Nerven behalten? Ich jedenfalls wollte nicht von einem Wasserwerfer von der Mauer gepustet werden. Daher war ich auch froh, als ich die Mauer wieder verlassen habe.

Die Westberliner kamen scharenweise zur Mauer mit kleinen Hämmern, um damit diesen Schandfleck der Stadt zu zerstören. Erst jetzt wurde mir klar, dass die Mauer, deren Existenz ich längst akzeptiert hatte, einen tiefen Stachel im Herzen der Berliner darstellte. Offensichtlich hatte sich auch im Jahr 1989 kein Berliner an die Mauer gewöhnen und diese schon gar nicht akzeptieren wollen. Jedenfalls haben mich die Berliner in diesen Tagen stark beeindruck.»

Treffen mit Freunden von „drüben“: „Man umarmte sich, es wurde gelacht, geweint“

Die Grenze hat ihren Schrecken verloren: Wie hier in Rudolphstein ist es nun deutlich einfacher zwischen der BRD und der DDR zu reisen.
Die Grenze hat ihren Schrecken verloren: Wie hier in Rudolphstein ist es nun deutlich einfacher zwischen der BRD und der DDR zu reisen. © Getty Images | Sven Creutzmann/Mambo photo

Helene Krebs aus Bochum erinnert sich: «Mein Mann ist gebürtig aus Bischhagen bei Eichsfeld. Bischhagen liegt in der ehemaligen „Zone“, die niemand aus der BRD betreten durfte. Eine Ausnahme gab es bei der Beerdigung der Eltern. Als die Grenze geöffnet wurde, sind wir frühmorgens nach Kassel gefahren. Freunde, auch aus Bischhagen, haben uns mit an die Grenze genommen.

Wir kamen gerade rechtzeitig an, die Bewohner von „drüben“ kamen uns entgegen, die Kirchglocken läuteten. Man umarmte sich, es wurde gelacht, geweint. Mein Mann wurde immer schneller und schneller. Ich kam gar nicht mehr mit. Dann sah ich meine Schwägerin. Sie weinte bitterlich. In all den Jahren (von 1974 an) habe ich sie nie weinen sehen. Ich nahm sie in den Arm und sie sagte: „Ich habe doch selbst die Zäune einschlagen müssen mit den Rücken im Nacken.“

Später gab es schöne Treffen in Bischhagen mit großer, großer Wiedersehensfreude. An der ehemaligen Grenze haben die Menschen aus Bischhagen, die im Westen wohnten, ein großes Kreuz errichtet. Mein Mann war daran sehr beteiligt. Solange wir reisen konnten, sind wir jedes Jahr dort gewesen. Mein Mann ist im Jahr 2000 verstorben und ich kann keine weiten Reisen mehr unternehmen.»

Vom DDR-Kühlschiff aufs ZDF-„Traumschiff“: Deutsch-deutsche Party mitten in Kuba

Reisende sind nicht mehr aufzuhalten: In langen Kolonnen fahren DDR-Bürger in Trabis über die Grenze.
Reisende sind nicht mehr aufzuhalten: In langen Kolonnen fahren DDR-Bürger in Trabis über die Grenze. © Corbis/VCG via Getty Images | Peter Turnley

Andreas Neubert aus Essen erzählt: «Zu dieser Zeit hatte ich noch meinen Wohnsitz in Leipzig und konnte die vielen Demos mit Begleitung von Volkspolizei und Stasi live miterleben. Beschäftigt war ich damals bei der Deutschen Seereederei Rostock. Nach sieben Wochen Urlaub begann mein Dienst am 09.10.89 auf dem DDR Kühlschiff MS „Theodor Storm“ als technischer Offizier. Die Reise ging nach Kuba. Im Reisegepäck war ein Siemens Weltempfänger. Ich hatte damit den besten Kurzwellenempfang. Die Deutsche Welle lief im Dauereinsatz.

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Nach Einschalten des Fernsehers war der entscheidende Augenblick. Die Menschen tanzten auf der Berliner Mauer. Nach Ankunft im Hafen von Santiago de Cuba gab es die nächste Überraschung. Direkt gegenüber von unserem Liegeplatz lag die MS „Berlin“, zu dieser Zeit das bekannte ZDF-Traumschiff. Es dauerte nicht lange, bis uns viele Besatzungsmitglieder vom „Traumschiff“ besuchten. Eine große Feier war das Ergebnis.

Am nächsten Tag ging die Feier auf MS „Berlin“ weiter. Was bleibt sind unglaubliche Erinnerungen! Die MS „Berlin“ ist noch heute im Einsatz. 2017 war ich damit eine Woche auf Kreuzfahrt in Kuba und Mexiko. Ich saß wieder an der gleichen Bar wie damals 1989. Meine alte Firma wurde nach der Wende schnell abgewickelt und ich lebe seit März 1991 in Essen.»

Wie sich WAZ-Leser an den Mauerfall erinnern (Teil 1)

„Diesen 9. November werde ich nicht vergessen“

Ich habe an diesem Tag meinen 35. Geburtstag gefeiert. Als mein Vater nach Hause ging, rief er an und sagte ganz aufgeregt: Die Mauer ist weg. Wir haben sofort den Fernseher angemacht und vor Freude geweint, da ein Teil unserer Familie im Osten lebt. Ein paar Tage später stand unsere Familie vor der Tür und die Freude war riesig. Diesen 9. November werde ich nicht vergessen. – Adelheid Freida-Bongartz, Duisburg

„Mein jetziges Leben wäre ohne den Mauerfall so nicht möglich gewesen“

Im Jahr 1989 war ich 20 Jahre alt, wohnte bei meiner Mutter in Duisburg-Homberg und arbeitete als Zivildienstleistender in Essen. Die DDR kannte ich nur aus dem Schulunterricht. Da wir keine Verwandten im Osten hatten, war ich nie an der innerdeutschen Grenze gewesen. Die Ereignisse Ende 1989 habe ich zwar interessiert im Fernsehen verfolgt, aber eine persönliche Beziehung hatte ich zu diesem Thema damals nicht. Jahre später hatte ich meine Freundin (meine spätere Ehefrau) kennengelernt und Bekannte von uns waren nach Berlin gezogen, die wir ab zu besuchten. Auf diese Weise lernten wir Berlin kennen. Als wir dann mit unseren damaligen Jobs nicht ganz zufrieden waren, entschieden wir uns, es einmal in Berlin zu versuchen. Inzwischen leben wir seit fast 20 Jahren im grünen Berliner Umland (ehemalige DDR) und ich arbeite in Berlin-Kreuzberg (ehemaliges West-Berlin, BRD). Auf dem Weg zur Arbeit überquere ich jeden Tag die Pflastersteinreihe, die am Boden den Verlauf der früheren Mauer markiert. Mein jetziges Leben wäre ohne den Mauerfall so nicht möglich gewesen und ich bin dankbar dafür, dass es so gekommen ist. – Bert Schmidt, Panketal (bei Berlin)

„Eine jubelnde und singende Menschenmasse“

Meine Gemeinde in Speldorf hatte eine Patengemeinde in Biesenthal (DDR), die ich betreuen sollte. Ich besuchte den Pastor und die Kirchentreuen, um nach Wünschen zu fragen. Dem Pastor brachte ich Westgeld, was für mich sehr gefährlich war. Gewohnt hatte ich bei einem alten Ehepaar. Wir saßen beim Kaffee, als die Schwiegertochter Erika hereinkam und ganz aufgeregt rief: „Die Mauer ist gefallen!“ – „Nie und niemals“, sagte der Schwiegervater, „eher glaube ich, dass der Honecker mich besuchen kommt!“ Erika erwiderte: „Ich gehe zum Pastor, der hat ein Auto, dann fahre ich mit ihm nach Berlin.“ Ich musste meinen Aufenthalt ein paar Tage verlängern, ich kam nicht durch die jubelnde und singende Menschenmasse zum Bahnhof. Aber ich war dabei, als die Mauer fiel! – Gerda Koßmann (95 Jahre), Mülheim

„Hauch der Geschichte miterlebt“

Obwohl ich den Fall der Mauer nicht persönlich miterlebte, war ich tief bewegt. Man spürt – so wie damals – den Hauch der Geschichte nur selten: Es wuchs zusammen, was zusammen gehört. – Hans-Peter Oswald, Köln

„Vor Freude Rotz und Wasser geheult“

An den Tag des Mauerfalls erinnere ich mich sehr genau, weil einige Familienmitglieder bei der Nachricht zusammensaßen und Rotz und Wasser heulten vor lauter Freude. Hätte diese Mauer nicht existiert, wäre uns die Flucht Anfang 1952 aus Leipzig über das Notaufnahmelager West-Berlin in den Westen erspart geblieben. Unsere Beweggründe: Vater als ehemaliger Selbstständiger aus Breslau ist von seinem Brigadier als „Kapitalist“ beschimpft, drangsaliert und schikaniert worden. Da kam der Monat der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“ und die gesamte Brigade erhielt diese Bezeichnung. der Brigadier wollte nun, dass die ganze Mannschaft geschlossen in diesen Verein eintritt. Vater war aber aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit den Russen dazu nicht bereit. So entpuppte er sich als angeblicher „Sowjetfeind“ und der Brigadier drohte Vater, ihn dahin zu bringen, wo er hingehört. Ich wollte vom Russisch-Unterrichten los kommen, am liebsten ganz aus dem Schuldienst raus (ein Ding der Unmöglichkeit). Anstehende Schießübungen und politische Schulungen taten ein Übriges. So entschlossen wir uns, in den Westen zu fliehen. Ein Glück sind wir bei der Prüfungskommission im Rahmen des Bundesnotaufnahmeverfahrens in West-Berlin als politische Flüchtlinge anerkannt und kostenlos in den Westen ausgeflogen worden. – Gisela Geflitter, Essen

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Essenerin erfuhr vom Mauerfall im amerikanischen Fernsehen

„Des isch ganz arg wichtig“ steht auf diesem Teil der Berliner Mauer.
„Des isch ganz arg wichtig“ steht auf diesem Teil der Berliner Mauer. © Corbis/VCG via Getty Images | Peter Turnley

Ute Petersen aus Essen erinnert sich: «Zum Zeitpunkt des Mauerfalls lebte ich mit meinem Mann in den USA. Nachrichten aus der Heimat bekam man damals noch mit der Post, sehr selten wurde auch mal telefoniert. Ausländische Berichterstattung war in den Medien der USA damals auch eher eine Ausnahme und so hatten wir von den politischen Entwicklungen in Deutschland nichts mitbekommen.

Am 9. November habe ich gerade ferngesehen, als ganz plötzlich das Programm unterbrochen wurde und der amerikanische Präsident eine Rede hielt. Ich war etwas irritiert, schenkte aber dem Inhalt der Rede wenig Aufmerksamkeit, bis allerdings das Wort Germany, gefolgt von dem Satz „The Wall Is Down“ in mein Bewusstsein drang. Ich rief meinen Mann und meinte, du, da ist irgendetwas in Deutschland los! Wir lauschten ungläubig , kontaktierten die Familie in Deutschland und tatsächlich: Es war wahr.

In den folgenden Tagen wurde uns immer wieder gratuliert und eine unserer ersten Reisen nach der Rückkehr ging nach Berlin.»

Gemeinsam mit Ostberlinern in der S-Bahn: „Andächtig genossen wir die Situation“

Diesem jungen Mann geht der Fall der Mauer offenbar nicht schnell genug. Oder er sammelt ein historisches Souvenir.
Diesem jungen Mann geht der Fall der Mauer offenbar nicht schnell genug. Oder er sammelt ein historisches Souvenir. © action press | SIPA PRESS

Rolf Miltz aus Oberhausen erzählt: «Die Nachrichten an diesem Donnerstagabend wollte ich nicht glauben: die Mauer wird geöffnet? Mehr und mehr verdichtete sich das Gerücht, bis die ersten Bilder über die Sender liefen: die Reisefreiheit wurde umgesetzt.

Sobald dieser Umstand klar war, organisierte ich für den folgenden Freitag 10. November eine Autofahrt von Oberhausen nach Berlin. Ich hatte 1981 mit Freunden und Familie abgemacht: Sobald die Mauer fällt, fahre ich nach Berlin. Am Freitag um 14 Uhr saßen wir zu dritt im VW Golf, meine Schwiegereltern hatten bei Bekannten in der Gartenlaube spontan die Couch reserviert.

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Tief in der Nacht in Berlin angekommen, stellten wir das Auto ab und setzten uns total erschöpft in die nächste S-Bahn, um zum Kudamm und zur Mauer zu fahren. Mit uns in den Zügen waren sehr viele Besucher aus dem Ostteil der Stadt. Es war fast gespenstig ruhig, andächtig genossen wir die Situation. An der Mauer beteiligten wir uns in den frühen Morgenstunden des Samstags auch als Mauerspechte. Durch die Spalten konnten wir auf dem Grenzstreifen hilflos patrouillierende Grenzposten beobachten.

Ach ja, die Couch im Gartenhaus der Bekannten haben wir nicht benötigt. Bis zur Rückkehr in Oberhausen am späten Sonntag haben wir nur ein paar Minuten Schlaf bekommen.»

Tagung in Berlin durch Mauerfall schlagartig beendet

Jubelnd laufen drei junge Ost-Berliner durch einen Berliner Grenzübergang.
Jubelnd laufen drei junge Ost-Berliner durch einen Berliner Grenzübergang. © dpa | dpa

Karin Schendel aus Essen berichtet: «Vom 8. bis zum 10. November nahm ich an einer Mentoren-Tagung des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung in Berlin-Zehlendorf teil. Das Ungewöhnliche war die Teilnahme zweier Kolleginnen aus der damaligen DDR, mit denen wir natürlich intensiv diskutierten. Ihre Teilnahme war nicht offiziell.

Am späten Abend des 9. November nach 23 Uhr (so berichteten die Kolleginnen am nächsten Morgen) versuchten deren Männer, die wie ihre Frauen den demokratischen Freiheitsbewegungen angehörten, beim ZDF über die Grenzöffnung zu berichten, wurden aber ungläubig abgewiesen. Sie flogen noch in der Nacht nach London zum BBC. So wurde dieser englische Sender einer der ersten, der die unglaubliche Kunde von der offenen Grenze, dem Mauerfall, verbreiten konnte.

Wie sich WAZ-Leser an den Mauerfall erinnern (Teil 2)

„Mit meiner Polaroidkamera war ich schnell das Objekt der Begierde“

Eine einwöchige Dienstreise führte mich damals nach Berlin. Ich hoffte über die dienstlichen Verpflichtungen hinaus auf etwas freie Zeit, um mal Ostberlin zu erleben. Das gelang am späten Nachmittag des 9. November 1989. Mein erstes Ziel: die Mahnwache in der Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg, dem Zentrum der friedlichen Revolution in der DDR. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, dass Stunden später hier plakatierte Träume in Erfüllung gehen sollten. Es war früher Abend, als ich auf dem Rückweg am Grenzübergang Friedrichstraße eine gewisse Unruhe bei den Grenzern vernahm. Diese Unruhe erklärte sich mir bei der Rückkehr ins Hotel. Der Portier empfing mich mit den Worten: „Herr Fischer, haben Sie schon gehört, die Grenze ist offen.“ Ich holte meine Polaroidkamera und machte mich auf den Weg zum Kurfürstendamm. Unglaublich, welche Menschenmassen hier feiernd unterwegs waren. Mit meiner Sofortbildkamera war ich schnell das Objekt der Begierde. Leider war mein Vorrat an Film schnell vergriffen. Am nächsten Tag war nicht an Arbeit zu denken. Alle machten sich auf zum Brandenburger Tor. Viele helfende Hände wurden uns gereicht, um auf die Mauer zu kommen. Auf der anderen Seite wachten die Vopos, so, als wäre nichts geschehen. Das war auf die Dauer langweilig und so ging es weiter zum Checkpoint Charly. Hier wurde wieder richtig gefeiert. Jeder Trabi frenetisch begrüßt. Ich versuchte einen anzuhalten. Es war ein Pastor aus Ostberlin, der mich mitnahm nach Berlin-Mitte. Ich lud ihn zum Essen ein und wir ließen unserer Fantasie freien Lauf, wie es denn nun weitergehen würde. Wiedervereinigung war für uns beide zu diesem Zeitpunkt eigentlich kein Thema. Fragen Sie mich nicht warum. Danach versuchte ich wieder an Sofortbildfilm heranzukommen. Leider vergeblich! So blieb es bei den zwei Dutzend Fotos von der neugewonnenen Freiheit. Polaroids verblassen leider irgendwann – die Erinnerung an diesen Tag aber nie! – Hans-Dieter Fischer, Herne

 „Kalte Hände, kalte Beene, aba uffm Ku-Damm“

Am 9. November gegen Abend machten wir es uns noch ein bisschen vor dem Fernseher gemütlich. Fassungslos hörten wir die Mitteilung von der sofortigen Öffnung der Mauer von diesem Schabowski. Ich fing an zu heulen, denn mir wurde schlagartig klar, dass wir ab sofort ohne Behinderungen nach „Ostdeutschland“ fahren konnten. Unsere ganze Verwandtschaft mütterlicherseits lebte- und lebt auch heute noch- mit Kind und Kegel im Großraum Berlin. Die Besuchsfahrten dahin waren bei mir immer mit viel Anspannung verbunden und die fiel urplötzlich von mir ab. Wir wünschten uns in diesem Moment in dem ganzen Trubel bei unseren Verwandten in Berlin zu sein! An diesem Abend fanden wir nicht ins Bett. Der Clou war, dass meine Verwandten in Berlin das an dem Abend überhaupt nicht mitgekriegt haben. Verwundert hörte meine Cousine die Mitteilung erst am nächsten Morgen im Radio. Ihre jüngste Tochter, sie war 15, sagte, dass das doch schon am Vorabend gemeldet wurde. Sie hatte überhaupt nicht begriffen, was da Unvorstellbares geschehen war. Ein paar Tage später kam dann eine Postkarte mit nachfolgendem Text bei mir an: „Kalte Hände, kalte Beene, aba uffm Ku-Damm“. Da erfüllte sich bei ihnen ein kaum vorstellbarer Wunsch. Diese Karte habe ich viele Jahre aufgehoben und dann der ältesten Tochter meiner viel zu früh verstorbenen Cousine geschenkt. – Marie-Luise Becker, Hattingen

„The Berlin Wall is open”

Im November 1989 war ich beruflich am anderen Ende dieser Welt: in Taiwan. Am 09.11. war ich mit meinem taiwanesischen Geschäftspartner auf dessen Einladung auf dem Ali Shan, dem höchsten Berg der Insel, um den legendären Sonnenaufgang zu erleben, eines der touristischen Highlights der Insel. Wir übernachteten in einem Touristenhotel, Kommunikation, Fernsehen, Radio etc. nur auf Chinesisch, dessen ich nicht mächtig bin. Beim Frühstück berichtete mein Geschäftspartner, er habe im Radio gehört: „The Berlin Wall is open”. Ich vermutete, dass es sich um einen neuen Grenzübergang handelte. Nach Rückkehr in mein internationales Hotel am Abend erfuhr ich das tatsächliche Geschehen aus dem amerikanischen Fernsehen; ein Telefongespräch mit meiner Familie in Bochum bestätigte das Ganze. Ich habe bis zu meinem zwölften Lebensjahr in der DDR gelebt, bis meine Eltern mit meinem Bruder und mir in die Bundesrepublik flüchteten. Wir haben immer auf die Wiedervereinigung gehofft, doch ich war mir keineswegs sicher, ob ich das noch erleben würde. Jetzt genieße ich die Möglichkeit, an die Stätten meiner Kindheit zurückzukehren, ohne als ehemaliger „Republikflüchtling” Repressalien befürchten zu müssen. – Klaus-Peter Ksinsik, Bochum

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Die Tagung war damit mehr oder weniger zu Ende. Die Allermeisten stürmten am 10. November zum Brandenburger Tor, die Dagebliebenen klebten am TV. Es gab hitzige Debatten und erste Befürchtungen wurden laut, dass die „Wessis“ die „Ossis“ vereinnahmen könnten. Wie ahnungsvoll! Ich selbst pilgerte mit Mann und Tochter am 11. November in einer ungeheuren Menge von Menschen zur Mauer am Brandenburger Tor.

Nach Essen konnten wir am 12. November nur über Hamburg fahren, denn der Grenzübergang Helmstedt-Marienborn war wegen des nicht mehr zu bewältigenden Andrangs von Trabis Richtung Westen am Vormittag geschlossen worden.»

Vopo-Mütze und Whisky-Cola: Ein Spaziergang durchs feiernde Berlin

Gemeinsam feiern West- und Ostberliner den Fall der Mauer. Von einer Deutschen Einheit sind die beiden Staaten zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt, doch schon 11 Monate später sollte die DDR Geschichte sein.
Gemeinsam feiern West- und Ostberliner den Fall der Mauer. Von einer Deutschen Einheit sind die beiden Staaten zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt, doch schon 11 Monate später sollte die DDR Geschichte sein. © picture alliance / Peter Kneffel | dpa Picture-Alliance / Peter Kneffel

Zum Abschluss hat uns Lothar Stuyts aus Bochum dieses ausführliche Protokoll seiner Nacht im feiernden Berlin geschickt: «Am Morgen des 9. November musste ich beruflich zu einer Kraftwerks-Inbetriebnahme nach Berlin, mit Rückflug am 10. November! Gerade im Kraftwerk angekommen, erfuhr ich über meine Firma, dass ich am nächsten Tag noch nach Wien fliegen sollte. Nach Rücksprache mit der Firma bat ich, den Flug auf Samstag früh den 11.11.89 zu legen, um die Gelegenheit zu nutzen, einen Abend in Berlin zu erleben.

Am Abend des 9. November erfuhr ich von der Maueröffnung und sah die ersten aktuellen Bilder. Mir kamen die Tränen. Am nächsten Tag im Kraftwerk wurde heiß über dieses Thema diskutiert. Die Inbetriebnahme des Dampfkessels wurde zügig durchgeführt und gegen Mittag beendet, da viele die Ereignisse live erleben wollten. Im Tempo ging es zum Hotel, duschen, umziehen und ab zur U-Bahn. An der Gedächtniskirche angekommen, ging es zu Fuß weiter, Busse fuhren wegen der Menschmassen auf den Straßen nicht, zum Schöneberger Rathaus um den Worten unserer Politiker Brandt, Kohl etc. zu hören. Danach per Fuß zurück zur Gedächtniskirche, wo eine, mir unverständliche Veranstaltung alleine durch die CDU startete. Diese wurde im Verlauf durch Rechtsradikale massiv gestört, so dass ich mich von dort entfernte.

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Ich wollte weiter per Bahn in den Ostteil nach Friedrichstadt um einen Passstempel der DDR-Grenzer vom historischen Tag zu erhalten. Am Tiergarten war es wegen der Menschenmassen nicht möglich, den Bahnsteig zu erreichen, so dass ich mich entschloss, eine Station vor dem Tiergarten einzusteigen, was auch problemlos klappte. Am Tiergarten stürmten die Menschen den Zug, es mussten viele wegen Überfüllung draußen bleiben. Leider war am Bahnhof Unter den Linden Schluss, alle mussten die Bahn verlassen. Es wurden keine Züge mehr Richtung Osten durchgelassen.

Dann halt zu Fuß dachte ich. Nachdem ich endlich den Bahnsteig verlassen hatte, stockte es vor der Grenze wieder. Es war vor dem Grenzübergang in einem großen Kreis abgesperrt. Plötzlich betrat unser ehemaliger Bundeskanzler Willi Brandt die Bühne, er kam zu Fuß mit seinem Gefolge aus Ostberlin zurück. Einen Zugang zur Ostseite hatten die Grenzer mir dann verweigert. Also aus der Not eine Tugend machen. Per Anhalter ging es mit einem Trabbi, der Fahrer kam gerade aus dem Osten, Richtung Straße des 17. Juni. Am Sowjetischen Ehrenmal stieg ich aus, da es wegen der überfüllten Straßen nicht weiterging.

Per Fuß ging es dann Richtung Brandenburger Tor, das ich gegen Mitternacht erreichte. Dort angekommen, überraschten mich die Menschenmengen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Ich dachte noch „welche Unvernunft“. Auf dem Vorplatz standen Tieflader mit riesigen Parabolantennen der Amerikaner und Engländer, die live über Satellit in ihre Länder berichteten.

Ich begab mich in den Bereich der Mauer, dort angekommen begannen die berühmten Mauerspechte mit der Zerlegung dieser mit Hammer und Meißel. Ein Stück nahm ich schnell auf, für meinen 13 jährigen Sohn. Den konnte er dann am folgenden Montag in der Schule präsentieren, da der Mauerfall sicherlich Thema war. An der Mauer standen einige Leitern. Von den Menschenmassen mitgerissen, wurde ich selber unvernünftig und habe den Aufstieg zur Mauer in Angriff genommen.

Die Mauer am Tor hatte eine Breite von ca. 2 Meter und war eben, so dass dort viele Menschen Platz fanden. Als ich mich durch die Menschentraube vorgeschoben hatte, sah ich auf der Ostseite drei Reihen Vopos mit Maschinenpistolen stehen. Eine beunruhigende Situation – bleiben sie ruhig und besonnen? Einige Mauerkletterer stiegen herab und provozierten die Vopos. Dabei verlor einer seine Schirmmütze, die durch einen schnellen Zugriff eines Wagemutigen in Besitz genommen wurde. Die Mütze machte dann auf der Mauer die Runde. Mein Gott dachte ich, wenn von den Vopos nur einer durchdreht und schießt, dann haben wir ein Fiasko. Die Mütze kam wieder runter und erreichte seinen Besitzer.

Plötzlich wurde es trotz der kühlen Nacht um mich herum ungewöhnlich heiß und hell. Neben mir auf der Mauer stand ein Feuerspucker, der 3 Meter lange Flammen in den Himmel spuckte. Die ersten Tropfen der brennbaren Flüssigkeit landeten auf meiner Schulter. Das war das Signal für mich, die Mauer schnell zu verlassen.

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Auf dem Weg zum Hotel traf ich am Sowjetischen Ehrenmal drei Berliner Frauen und einen Mann wieder, die ich auf dem Weg in die Innenstadt in der U-Bahn kennengelernt hatte. Wie die Berliner halt so sind, es war mittlerweile 2 Uhr nachts, öffneten sie ihre Taschen und holten Sekt für die Frauen und Whisky und Cola für uns Männer auf das Wiedersehen ein. Danach gingen wir zu Fuß gemeinsam, Busse fuhren ja nicht, zu einem noch geöffneten Lokal. Um 4 Uhr in der Früh erreichte ich endlich mein Hotel.

Der Wecker schellte gegen 6 Uhr, da mein Flieger um 8 Uhr abheben sollte, ging es per Taxi zum Flughafen und ich erreichte über Frankfurt am Mittag Wien. Bei der Wiener Firma angekommen, interessierte man sich herzlich wenig für das historische Ereignis. Nach getaner Arbeit wollte ich am Abend zurück in die Heimat. Doch der Flieger konnte vorerst wegen Nebel nicht starten. Nach Aufklärung konnte es mit einiger Verspätung doch noch Richtung Düsseldorf losgehen und ich erreichte am 11.11.89 gegen 22 Uhr übermüdet mein Zuhause.

Die WAZ vom 10.09. und 11.09.89 habe ich aufbewahrt. Sie sind ein wenig vergilbt, aber sonst im guten Zustand.»

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