Marl. Das Publikum feierte den Schauspieler in Oliver Reeses Inszenierung „Mein Name sei Gantenbein“. Wieso Max Frisch auch heute noch modern ist.
Jeder braucht eine gute Geschichte. Der Instagram-Auftritt, die Biografie bei Facebook. Ein starkes Image für die Firma - einen Style für die Partei oder den Sportverein. Der Begriff des Narrativs hat einen Markt eröffnet; ganze Unternehmen haben sich auf das Storytelling spezialisiert, das Konstruieren werbewirksamer Geschichten: Ich erfinde, also bin ich ich.
Oliver Reese inszeniert das Theaterstück für das Berliner Brecht-Ensemble
Aber inwieweit entspricht das noch der Wirklichkeit? „Das Mindeste ist, die Lüge zu hinterfragen“, mahnte der Schriftsteller Max Frisch schon 1964 und legt mit seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“ eine Alternative vor, die Oliver Reese, Intendant des Berliner Brecht-Ensembles, fast 60 Jahre später kurz und knackig mit einem hervorragenden Matthias Brandt modern in Szene setzt. Jetzt gastiert das Stück bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Also stellen wir uns einfach vor...
Tatort ist die reale Theaterbühne, auf der sich Brandt ebenso gut macht wie als langjähriger TV-Kommissar Hanns von Meuffels im „Polizeiruf 110“, als den ihn die Mehrheit kennt. Und auch im zweimal ausverkauften Theater Marl, Dependance der Festspiele, gilt: Kaum einer lehnt so lässig mit dem Whiskyglas an der Wand, wie er. Aber Brandt kann viel mehr als den coolen Fernsehstar. Er kann Max Frisch, hier gar nicht so einfach.
„Mein Name sei Gantenbein“, sagt Frischs Erzähler, der in einem Bildschirm aus Neonlichtbögen wechselnder Farbe spielt. Eine Holzverkleidung gibt Alltag frei, eine Kommode, Requisiten, der schwarze Anzug, der Kühlschrank - mittendrin: ein normaler Typ, etwa 60, groß, schlank. Mehr erfahren wir nicht, nur, dass er die Orientierung verlor. Im Roman wird verraten, warum: Seine Frau hat ihn verlassen, die Leere der Wohnung schickt ihn auf eine Reise in sein Inneres.
Ein Mensch ohne Namen denkt nach über den Tod
Regisseur Oliver Reese ist mutig und hat den komplizierten Rahmen noch zusammengestrichen. Hier steht ein Kerl, ein Individuum und denkt an den Tod, der den Abend wie eine Klammer umgibt. Am Ende wird er sich für das Leben entscheiden, aber nicht, ohne abzuwägen, wie es hätte anders laufen können. Frischs Erzähler schlüpft in Rollen, wechselt die Geschichten wie andere ihre Kleider.
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Er ist Gantenbein, der den Blinden spielt und das Leben als menschliche Tragödie beobachtet; seine Frau, die Schauspielerin Lila, hintergeht ihn, was er ignoriert. Sie ignoriert dafür die Lüge seiner Blindheit: lieben, leiden, schweigen - Beziehungen funktionieren so. Er ist aber auch der eifersüchtige Architekt namens Svoboda und der neurotische Kunsthistoriker Enderlin, beide sind jedoch kaum besser dran: betrogen, verstört und müde.
Ein Spiel mit der Summe der Möglichkeiten bei den Ruhrfestspielen
Und so flattert der namen- und irgendwie gesichtslose Mensch durch ein Leben, sich immer neu erfindend, ausprobierend, auslotend. Ein Spiel mit der Summe der Möglichkeiten. Und ein großer Auftritt für Matthias Brandt, der vor „Gantenbein“ jahrelang nicht mehr Theater gespielt hat.
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Er hält den Abend zusammen, indem er erzählt, mal beiläufig, mal leidenschaftlich, spöttisch, bitter, witzig. Er flaniert über die Bühne, nimmt sie ein - schleudert sein Glas wütend gegen die Wand, weil er sich betrogen sieht. Ein Verlorener, der der Prostituierten Camilla Geschichten erzählt, weil sie Geschichten so liebt - ein bisschen wie Scheherazade aus „1001 Nacht“, die dadurch dem Tod entkam.
Und so ist es am Ende egal, ob dies nun eine zerbrochene Liebesbeziehung ist, ein schicker Selbstfindungstrip oder ein Gegenentwurf zum Einheitsbrei der Fake News und anderen selbstverfassten Wirklichkeiten. Standing Ovations, die Brandt genießt. Sicher ist: Im Fernsehen bekommt man das nicht geboten.