Recklinghausen. Sharon Dodua Otoo sprach zum Auftakt der 76. Ruhrfestspiele, bevor mit „Sybil“ von William Kentridge ein Gesamtkunstwerk zelebriert wurde.
„Es war einmal…“, begann die Berliner Autorin Sharon Dodua Otoo ihre Festrede, und nicht wenige im Ruhrfestspielhaus dürften sich tatsächlich für einen Moment wie in Zeiten gefühlt haben, als das Wünschen noch geholfen hat. Zum Bühnen-Auftakt am Dienstagabend waren die Ränge zwar nicht gefüllt – aber das Haus galt, unter den gegebenen Umständen, als ausverkauft, wie Festspielintendant Olaf Kröck betonte.
Unter den Selbstverständlichkeiten, die in jüngster Zeit ins Wanken geraten sind, mag das eine der geringeren gewesen sein. Doch im kräftigen, ausdauernden Schlussapplaus für William Kentridges eigenwilliges Bühnenwerk „Sybil“ steckte wohl auch ein wenig Freude am Wiedergewinnen, Begeisterung über allzu selbstverständlich Gewordenes.
Die Hand von William Kentridge auf der Projektionsleinwand
Das corona-kompatible 80 Minuten dauernde, in zwei Hälften geteilte Stück ist ein Gesamtkunstwerk aus Gesang und Zeichentrick, aus Tanz und Schauspiel, Projektion und Literatur. Im ersten Teil, dem gesangs-flankierten Kunstfilm „The Moment Has Gone“ aus dem Atelier von William Kentridge über die Entwicklung dieses Gesamtkunstwerks aus dem Geist der Zeichnung gerät auch dessen Lieblings-Zeichenmaterial Kohle auf die Projektionswand, und das streift den Gründungsmythos der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit leichter Ironie. Wichtiger aber ist für das Stück, das die Oper von Rom, das Theater von Luxemburg und die Stockholmer Dramaten-Bühne in Auftrag gaben, der weit ältere Prophetinnen-Mythos der Sibylle von Cumae, die den Aufstieg Roms prophezeite.
Der zweite Teil des Abends, die kurze Kammeroper „Waiting for the Sibyl“ dreht sich freilich eher um diejenigen, die sich nach Propheten sehnen, weil die Gegenwart genügend Anlass dazu gibt, nach einer Verbindung in die Zukunft zu suchen. Den Wahrheitszugang der antiken Sibylle durch ekstatische Zustände bringt die Tänzerin Nhlanhla Mahlangu mit einem furiosen, kraftstrotzenden Solo über etliche Minuten hinweg auf die Bühne. Es gibt auch Schattentanz zu poetischen Rorschach-Bildern.
Stimmen wie bei Ladysmith Black Mambazo
Und dazu raunen, wispern, donnern, jubilieren Stimmen im kunstvollen Chor- und Sologesang, wie wir ihn von Ladysmith Black Mambazo und anderen südafrikanischen Ensembles kennen – selten wurde sich mit der Unterstützung von Maschinen so schön gegen deren Vorherrschaft gestemmt.
Auf der Projektionswand, aus Lautsprechern und in der deutschen Übertitelung tauchen dazu immer wieder Sätze zwischen Kalenderspruch, Schlagzeile und Kalauer auf, „Der Himmel redet in einer Fremdsprache“ etwa, „Der Winter endet um 11“ oder „Der eine glückliche Mann in Nordbrasilien“.
Sharon Dodua Otoo erinnert an Fasia Jansen
„Es war einmal ein Haus mit roten Sitzen…“, fabulierte Sharon Dodua Otoo den Grünen Hügel von Recklinghausen, das Publikum und sich selbst in eine Geschichte, in der auch die vier Zentralfiguren ihres Debütromans „Adas Raum“ aus dem vergangenen Jahr eine Rolle spielten. „Ich bin eine Geschichtenerzählerin“, bekannte die 1972 in London als Kind ghanaischer Eltern geborene Autorin, „wir alle sind stets am Erzählen“, was auch bedeute, Dinge auszulassen, zu inszenieren. Das Erzählen sei aber auch für jene wichtig, die Fakten unter die Menschen bringen wollten – schließlich hätten auch autoritäre Staaten, nationalistische „Wir“-Gefühle, der Brexit und der Wahlsieg Donald Trumps ihren Ausgang in Erzählungen gehabt. Deshalb brauche es auch für Fakten, auch für Wahrheiten aussagekräftige, kreative Erzählungen und inspirierende Visionen.
Was Otoo gleich an Ort und Stelle umsetzte mit der Erinnerung an die 1997 in Oberhausen gestorbene schwarze Liedermacherin und Friedensaktivistin Fasia Jansen und ihren standhaften Protest gegen eine NPD-Demonstration 1969 in Recklinghausen. Und mit ihrem Befremden über den Zwiespalt, der sich öffnet zwischen der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge in Europa und den Pushbacks, den illegalen Rückführungen afrikanischer Flüchtlinge auf hohe See. „Und wenn sie nicht gestorben sind...“