Essen. WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets: Frank Goosens heimliche Autobiografie „Radio Heimat“ ist zugleich Geschichten-Band und ein Revier-Porträt.

Haben Sie sich eigentlich mal gefragt, wie das kam, dass seit ein paar Jahren plötzlich alle Welt wieder von Heimat redet? Und zwar nicht mit jenem markanten „Hejmaat“-Klang, wie man ihn etwa von den Vertriebenen-Treffen der Hindenburger in Essen kennt, sondern topmodern? Plötzlich gab es „Heimat-Shopper“ (obwohl sie doch so wenig käuflich sein soll wie die Liebe) und dann auch noch ein Heimat-Ministerium nach dem anderen. Und wer hat das alles losgetreten?

Frank Goosen!

Nun gut, das ist ein kleines bisschen übertrieben. Aber nur ein kleines. Denn als vor zehn Jahren Goosens verkappte Autobiografie in kleinen Geschichten unter dem Titel „Radio Heimat“ erschien, war der Begriff im Buchumdrehn von all dem Kitsch, der Rückständigkeit und dem Mief befreit, der ihn bis dahin zugestaubt hatte. Und wie hat er das gemacht, der Tresenleser, Romanverfasser, Kleinkunstriese und Fußballverrückte aus Bochum? Mit geradezu laubbläserhafter, pointenpraller Ironie: „Ich persönlich reise mittlerweile durchs Land und sage jedem, der es nicht hören will: ,Ja, das stimmt alles. Wir leben wirklich unter Tage. Die Häuser oben sind nur Attrappen. Wir kommen praktisch nur für so quasireligiöse Zusammenkünfte wie meine Lesungen an die Oberfläche. Unsere Kinder kommen wirklich mit der Grubenlampe an der Stirn zur Welt. Und wir haben natürlich alle noch einen alten Förderkorb in der Küche, da wird morgens die Familie hineingetrieben, dann geht es in einem Affentempo auf tausend Meter Tiefe, und dann wird zum Frühstück an der leckeren Kohle geschleckt!’“

Wunderbares Panoptikum erztypischer Ruhrgebietsfiguren

„Radio Heimat“ bietet ein wunderbares Panoptikum erztypischer Ruhrgebietsfiguren von den 50er-Jahren bis in die Gegenwart. Es beginnt alles mit „Omma“ und „Oppa“, und „Omma Rathaus“ wohnte eben dort in Bochum, wo ihr Mann Heizungsinstallateur war und Goosens Mutter allerlei Schabernack trieb. Wenn Omma Goosen vor Vico Torriani im Fernseher schier zerfloss, ging Oppa zu gepflegten Vorwärtsverteidigung über: „Der geht auch nur kacken!“ Derselben Logik folgt die Devise „Woanders is auch scheiße“, die ausgerechnet im jubelfreudigen Kulturhauptstadt-Jahr 2010 enorm populär wurde – obwohl sich die tiefe Ironie, die mit dem blauen Himmel über und den grünen Wäldern an der Ruhr immer größer wurde.

Wir lernen die im Kohlezeitalter verwurzelten Verwandten und Bekannten von Goosen kennen, Onkel Josef und Tante Henni etwa, den „Laberfürsten“ („von nix ne Ahnung, aber immer große Fresse!“ oder Theo, den Schrebergartennachbarn. Alles Größen, die auch Goosens Schulzeit der 70er-Jahre (als Ali nachts boxte und die Väter dafür aufstanden) begleiteten und seine Erwachsenwerdung in den wilden 80er-Jahren des Reviers,.Mit Einblicken in den Partykeller als „Salon des kleinen Mannes“ oder in ein fast serienmäßiges Scheitern, an Frauen und ihren Ansprüchen, einem Rockband-Projekt oder beim Durchbrennen. Es geht um Mixed-Cassetten, Opel Kadetts und die A40, die mit einer Ode besungen wird. Auf den Flügeln der Ironie gerät das zur Seelenbiografie einer ganzen Generation zwischen Zechensterben und witzlebendiger Gegenwart.

Frank Goosen: Radio Heimat. Geschichten von zuhause. WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets, Klartext Verlag, 182 Seiten, 9,95 Euro.

Bislang besprochen wurden die „WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets“-Bände: - die Kumpel Anton-Glossen - Max von der Grüns „Irrlicht und Feuer“ - Michael Klaus’ „Nordkurve“ - „Streuselkuchen in Ickern“ von Hans Dieter Baroth - Ralf Rothmanns Revier-Roman „Milch und Kohle“ - Liselotte Rauners „Ein Stück Himmel. Gedichte und Epigramme“ - „Nennt mich nicht Nigger. Kurzgeschichten aus zwei Jahrzehnten“ von Josef Reding - Inge Meyer-Dietrichs „Plascha – oder Von kleinen Leuten und großen Träumen“ und „Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in zwei Welten“ von Hatice Akyün.