Essen. WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets: „Streuselkuchen in Ickern“, ein figurenpraller, faktentreuer Roman über den Ruhrgebiets-Alltag von 1900 bis 1980.
Selbstverständlich gab es den Streuselkuchen auch in Ickern, das 1926 mit Castrop-Rauxel zusammengelegt wurde, zu Beerdigungen, genau wie im übrigen Ruhrgebiet. Und auch sonst ist Ickern in Hans Dieter Baroths Buch eine Art Brennglas für das, was im Revier des 20. Jahrhunderts mit den Menschen in den Zechenkolonien passierte, wie sie lebten, litten, aßen, stritten.
Nie zuvor war so viel wirkliches Ruhrgebiets-Leben, so viel und so genaue Alltagsgeschichte zwischen zwei Buchdeckeln gewesen, bis Hans Dieter Baroth 1980 seinen „Streuselkuchen in Ickern“ erscheinen ließ, bei dem zwar das Wort „Roman“ auf dem Titelblatt stand, der aber zugleich lauter Tatsachen enthielt bis hin zur weißen Tischdecke, bei der es sich eigentlich um ein nicht mehr benutztes Laken handelte.
Wie ein Familienalbum erzähltes Buch
Hans Dieter Baroth, 1937 als Dieter Schmidt in Oer-Erkenschwick geboren, wird das eine oder andere Faktum mit leichter Hand passend gebogen haben – aber dieses wie ein Familienalbum erzählte Buch über den Opa („das Ekelpaket“, nannte ihn seine Frau) und die Oma, über Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen von nebenan weiß von Teppichstangen und Muckefuck, Straßenbahnen und amputierten Beinen nach einem Grubenunglück, von Stocheisen und den Ringen auf dem Kohlenherd – aber ohne jeden Anflug von Nostalgie oder Sentimentalität.
Dieser Romanerzähler, der zwischendurch fast überraschend auch mal „ich“ sagt, ist kein „raunender Beschwörer des Imperfekts“, wie sich Thomas Mann ja so gern sah. Er ist eher ein faktentreuer Beschreiber des Unperfekten. Hier wird nicht ausgespart, wie unzivilisiert, wie grob und auch gemein die Menschen waren, die von überall her und oft auch aus dem Osten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet eingewandert waren wie der Großvater des Erzählers.
Der Star von Rote Erde Ickern als roter Faden des Romans
Eine Art roter Faden in diesem personalprallen Roman, der so viel von Geschwisterkonkurrenz, von eigenwilligen und gerade darum typischen Charakteren mit klaren Konturen erzählt, ist der Star von Rote Erde Ickern, dem örtlichen Boxverein: Peter Woetkes Aufstieg, sein Traum von einer Profi-Karriere und sein Abstieg bis zum lakonisch rührenden Schlussbild des Buchs.
Dieter Schmidt hatte anfangs Bergmann gelernt, wurde Gewerkschaftsfunktionär, Pressereferent beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und später mit 33 Jahren Chefredakteur beim neugegründeten DGB-Jugendmagazin „’ran“, bevor er dann das Ruder bei der „Welt der Arbeit“ übernahm, der Wochenzeitung des DGB. Seit Anfang der 60er-Jahre lebte er in Düsseldorf, wo er auch begann, Dokumentarfilme zu drehen. Sein Roman „Streuselkuchen in Ickern“ geriet ihm zu einer Art gedrucktem Dokumentarspielfilm, es ist das realistische, aber alles andere als herzlose Gegenstück zu „Kumpel Anton“ und seinen knuffig erfundenen Anekdoten.
Bislang besprochen wurden die „WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets“-Bände:- die Kumpel Anton-Glossen - Max von der Grüns „Irrlicht und Feuer“- Michael Klaus’ „Nordkurve“.