Essen. WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets: Ralf Rothmanns Revier-Roman „Milch und Kohle“ erzählt von jugendlichen Hoffnungen und Enttäuschungen der Eltern.
Ralf Rothmann hat in seinen frühen Ruhrgebietsromanen einen immer milderen Ton angeschlagen, vom wilden, jugendlich trotzig-rotzigen „Stier“ bis zum eher sentimentalisch angehauchten Roman „Junges Licht“. „Milch und Kohle“ liegt da ungefähr in der Mitte, auf halber Strecke zwischen Teenager-Rebellion und warmem Verständnis für die Enttäuschung, mit der Erwachsene früh auf ihr Leben samt der einstigen Hoffnungen und Sehnsüchte zurückblicken.
Der Titel markiert einen Umzug ins Ruhrgebiet, wie ihn auch der junge Ralf Rothmann erlebte, der 1953 in Schleswig zur Welt gekommen war. Kaum fünf Jahre alt, zog die Familie ins Ruhrgebiet, wo die Luft zwar schlechter war, die Verdienstmöglichkeiten aber besser und der Wohlstand auch für die „kleinen Leute“ größer.
Unbehagen zwischen Zechentürmen und Teppichstangen
Im Roman aber fragt der junge Simon, warum man denn nicht bei den Kühen geblieben sei – so groß ist sein Unbehagen zwischen Zechentürmen und Teppichstangen. Es ist eine überaus typische Jugend für die mittleren und späten 60er-Jahre. Die Beatles haben gerade ihr „Rubber Soul“-Album herausgebracht, Simons einzige Platte bislang, er hat ja auch gerade erst einen Plattenspieler von Woolworth bekommen – was nicht nur musikalisch neue Welten eröffnet, denn die schöne, aber schnepfige Christiane Schneehuhn möchte mehr als nur die Neue von den Beatles hören.
Auch in den Betten der Erwachsenen geht es kreuz und quer. Als Simons Vater von der Arbeit ein paar neue Kollegen aus Italien mit nach Hause bringt, nörgelt die Mutter noch über die Umstände und den umsonst angesetzten Sauerbraten. Aber dann zeigen Gianni Perfetto und seine Kumpel, was die italienische Küche zu bieten hat – und machen die ganze Familie glücklich. Aber als Simons Vater bei einem Grubenunglück nur mit gebrochenen Beinen davonkommt und im Krankenhaus liegt, entdeckt der Junge eines Morgens Gianni im Bett seiner Eltern, während sich die Mutter in der Küche eine Zigarette anzündet.
In „Milch und Kohle“ qualmen auch die Auspuffrohre
Ja, in diesem Roman qualmen nicht nur die Schlote, sondern auch die Auspuffrohre – mal ist es eine frisierte Zündapp, mal eine Moto Guzzi, die der Händler nach einer ganztägigen „Probefahrt“ mit den Worten begrüßt: „Was sagt der Onkel in Holland zu dem Stück?“
Der Humor ist trocken in diesem Roman, und das Leben der 60er pulsiert zwischen Zinn 40 und dem Ata-Scheuerpulver, mit dem Simons Kumpel Pavel seine Lee-Jeans in der Badewanne bearbeitet, zwischen „Trill“-Futter für den Wellensittich und Haifischkragen.
Rothmann schildert eine regelrechte Feier-Wut
Das alles ist längst vorbei, der Roman beginnt damit, dass der erwachsen gewordene Simon die Hinterlassenschaften seiner gerade gestorbenen Mutter aufräumt. Rothmann schildert im erinnernden Rückblick ausgelassene Kneipenszenen, eine regelrechte Feier-Wut, ausgelassen, hochprozentig und verblüffend hemmungslos, großartige Kneipenszenen, die zu schön sind, um frei erfunden zu sein. Die Sehnsucht der Arbeiter und Kleinbürger nach einem Leben, das etwas größer ist als das, was sie erleben, treibt die buntesten Blüten – und erst recht gilt sie für die Jugendlichen, die vielleicht doch nicht nur bis Kirchhellen ausbrechen wollen. Und manchmal ihren Weg mit ungeahnter Brutalität nehmen, die im Lesen aber nachvollziehbar wird.
Die Verzweiflung über die Leere des Alltags all der Konsumfülle zum Trotz ist mitunter groß in „Milch und Kohle“; aber nie äußert sie sich so schön, so melancholisch wie in dem Satz, den Simons Mutter auf die Frage antwortet, warum sie sich eigentlich nicht scheiden lässt: „Wir hatten doch auch gute Jahre.“ Das ist das heimliche Leitmotiv dieses wunderbar lebensnahen Romans.
Bislang besprochen wurden die „WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets“-Bände: - die Kumpel Anton-Glossen - Max von der Grüns „Irrlicht und Feuer“- Michael Klaus’ „Nordkurve“- „Streuselkuchen in Ickern“ von Hans Dieter Baroth.