Essen. WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets: „Plascha“ von Inge Meyer-Dietrich. Jugendbuch – und lebendig erzählte Geschichte der Zeit um 1918 für Erwachsene.
Da, wo Inge Meyer-Dietrichs famoser Roman „Plascha“ spielt, steht heute der Bochumer Ruhrpark. Von Deutschlands zweitältestem Einkaufszentrum, das 1964 eröffnete, von 160 Geschäften auf 125.000 Quadratmetern, war damals selbstverständlich noch keine Spur. Da herrschte noch das irrwitzige Ineinander von altem Bauernland und Hightech-Fabriken der Zeit, wie wir es von alten Fotos mit müden Ackergäulen vor qualmenden Koks-Batterien kennen.
Der Flecken in Bochum-Harpen, auf dem dieser Ruhrgebietsroman rund um das Ende des Ersten Weltkriegs spielt, hieß Wieschermühle, und hier grast auch die Hippe, wie Plascha ihre Ziege nennt, die sie so gerne mit Heu füttert. Nicht nur aus Tierliebe, sondern auch, weil sie es mit ihrer Milch dankt, die Plaschas Familie bitter nötig hat. Damit kann man nämlich die Pellkartoffeln in dünner Suppe ein bisschen leckerer machen. Zwischen Steckrübenwinter und Revolution wohnen sie mit den Galonskas, Wawciniaks und Komoreks auf einer Straße, und oft rufen ihnen die Einheimischen Sachen wie „Rot und blau, Pollacksfrau“ hinterher.
Der Papa von Plascha ist an der Front
Eigentlich heißt das gescheite Drei-Namen-Mädchen Plascha Pelagia, aber das ist Polnisch, und deshalb wird sie von Fräulein Hölter, ihrer Lehrerin, immer Paula genannt. Die älteste Schwester Lodja schrubbt schon bei Fremden als Dienstmädchen die Böden, Plascha schläft mit ihrer Mutter in einem Bett, so eng ist es. Papa ist an der Front, und Plascha sehnt herbei, dass er endlich nach Hause kommt – ihre Mutter, die oft traurige polnische Lieder aus ihrer Kindheit singt, wird noch lange nach dem Krieg auf ihren Mann warten. Bevor sie nicht weiß, wo er begraben ist, will sie die Hoffnung nicht aufgeben.
Inge Meyer-Dietrich , die in Gelsenkirchen lebt und für ihr Gesamtwerk bereits mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet wurde, ist mit ihrem 1988 erstmals erschienenen Roman „Plascha“ ein Meisterstück gelungen, das zeigt: Auch vor Harry Potter gab es schon Kinder- und Jugendbücher, die genauso gern von Erwachsenen gelesen werden. Inge Meyer-Dietrich schildert mit großer Anschaulichkeit und viel Herz einen Teil der Ruhrgebietsgeschichte, der heute weithin verdrängt ist. Die Region, die heute allgemein als „Schmelztiegel“ gilt, tat sich gar nicht so leicht mit den Einwanderern, die aus dem Osten kamen – Plaschas ältere Freundin Lisa Komorek wird, nachdem ihr Franek „für Kaiser und Vaterland gefallen“ ist, am Ende sogar nach Polen zurückkehren, wohlwissend, dass sie dort auch nicht unbedingt mit Freuden aufgenommen werden wird.
Gewaltiger gesellschaftlicher Umbruch von der Monarchie zur Demokratie
Vor allem aber erzählt Inge Meyer-Dietrich an der Hand von Plascha von dem gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch von der Monarchie zur Demokratie am Ende des unvorstellbar brutalen Krieges, der selbst starke Bergleute so gebrochen zurückkehren lässt, dass sie nicht mehr in die Grube einfahren wollen, weil es sie an die traumatische Zeit im Schützengraben erinnert. Zwar singen sie Spottlieder wie „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, / der Kaiser hat in’n Sack gehaun. / Jetzt kauft er sich ‘nen Henkelmann / und fängt bei Krupp in Essen an. / Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, / der Kaiser hat in’n Sack gehaun.“ Aber der Roman zeigt auf anschauliche Weise, was Revolution und die mörderischen Gemetzel der Freikorps wenige Monate später für die Menschen auf der Straße bedeutet. Selbst Kinder wie Plascha erleben plötzlich blutende, sterbende Menschen.
Am Ende aber ist zum ersten Mal seit 1913 wieder Herbstkirmes, ist Aufbruch und Hoffnung, symbolisiert in der Ruhrgebietsvariante der aufgehenden Sonne: „und überm Stahlwerk der Feuerschein lodert als Fackel bis in den Himmel und macht es im Garten hell.“
Inge Meyer-Dietrich: Plascha oder Von kleinen Leuten und großen Träumen. WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets , Klartext Verlag, 221 S., 9,95 €. Empfohlen ab 12 Jahren.
Bislang besprochen wurden die „WAZ-Bibliothek des Ruhrgebiets“-Bände: - die Kumpel Anton-Glossen - Max von der Grüns „Irrlicht und Feuer“ - Michael Klaus’ „Nordkurve“ - „Streuselkuchen in Ickern“ von Hans Dieter Baroth - Ralf Rothmanns Revier-Roman „Milch und Kohle“ , Liselotte Rauners „Ein Stück Himmel. Gedichte und Epigramme“ und „Nennt mich nicht Nigger. Kurzgeschichten aus zwei Jahrzehnten“ von Josef Reding.