Mülheim. Rezession, aber trotzdem Fachkräftemangel, sehr viele ohne Arbeitsstelle: Wie Arbeitsagentur und Jobcenter diese Herausforderung meistern wollen.
Mülheims Arbeitsmarkt pendelt zwischen den Extremen: In der Bilanz für 2023 tun sich markante Trends auf, die sowohl Positiv- als auch Negativrekorde beschreiben.
So stellt der Chef der hiesigen Agentur für Arbeit, Jürgen Koch, ein Paradoxon in seine Überschrift für Mülheims Arbeitsmarktbilanz 2023: „Zwischen Rezession und Arbeitskräfteengpässen“. Trotz angespannter wirtschaftlicher Lage hätten mittlerweile Arbeitgeber jedweder Branche Probleme, freie Stellen zu besetzen, stellt er fest. Der Fachkräftemangel habe sich weiter, raumgreifend entwickelt.
Neuer Rekord bei sozialversicherungspflichtigen Jobs, offizielle Arbeitslosenzahl recht stabil
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Zunächst einmal kann Mülheim trotz angespannter wirtschaftlicher Lage in Deutschland bemerkenswerte Zahlen ausweisen: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreichte im Frühjahr des Vorjahres (aktuellere Zahlen liegen nicht vor) ein neues Rekordniveau: 62.398 Menschen und damit 2,9 Prozent mehr hatten einen solchen Job in der Stadt. Von der Steigerung profitierten überdurchschnittlich Männer, Arbeitnehmer jenseits von 55 Jahren und mit einer höheren Qualifikation als eine Fachkraft, ebenso Teilzeitkräfte. Bedingt durch die hohe Zuwanderung legte insbesondere die Zahl ausländischer Beschäftigter stark zu (plus 11,7 Prozent). Wermutstropfen dabei: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen steigt erneut, erreicht mit 3682 Menschen fast wieder den Dekaden-Höchststand von 2021 (3808).
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Trotzdem stellt Koch fest: „Mülheim ist durch das Kontrastprogramm mit Rezession und Arbeitskräfteengpässen verhältnismäßig gut gekommen.“ Während die offizielle Arbeitslosigkeit im gesamten Ruhrgebiet um 4,8 Prozent und NRW-weit gar um 6,2 Prozent gestiegen sei, liege der Zuwachs in Mülheim bei nur 0,6 Prozent, das sei „schon ein sehr, sehr gutes Ergebnis“, so Koch. 7107 Mülheimerinnen und Mülheimer sind demnach nach offizieller Statistik zum Jahresende arbeitslos gewesen. „Menschen finden sehr schnell wieder einen Job“, stellt der Agentur-Chef fest.
Fast 1300 Ukrainer in Mülheim noch ohne Job
Allerdings fehlen in der offiziellen Betrachtungsweise fast 2800 Menschen, die ebenso keinen regulären Job haben, aber etwa an Arbeitsmarktmaßnahmen teilnehmen oder aufgrund einer Sonderregelung für Ältere erklärt haben, dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen zu wollen. All diese Menschen mitgerechnet, ergibt sich eine Unterbeschäftigungsquote von 11,1 Prozent. Die Zahl der „unterbeschäftigten“ Menschen (9892) hat demnach auch einen Höchststand erreicht. Als Erklärung für dieses Phänomen bringt Koch die hohe Zahl an Zuwanderern vor. Hunderte von ihnen nähmen etwa noch an Sprachkursen teil, um für potenzielle Arbeitgeber interessant zu werden, insbesondere Menschen aus der Ukraine.
Das bildet sich auch ab in Zahlen des Mülheimer Jobcenters. Es weist gar knapp mehr als 14.000 Menschen in Mülheim aus, die als erwerbsfähig gelten, mitunter aber trotz Job ohne staatliche Stütze nicht über die Runden kommen. Darunter mittlerweile 1286 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die dem Arbeitsmarkt rein rechtlich sofort zur Verfügung stehen könnten.
Gemeldete freie Stellen: So wenige wie in den vergangenen 15 Jahren nicht
Aber wie diese und Tausende andere Menschen in Arbeit bringen? Zunächst einmal nüchtern festzustellen ist, dass in keinem der 15 zurückliegenden Jahren weniger freie Arbeitsstellen in Müllheim bei der Arbeitsagentur gemeldet waren als im vergangenen Jahr, als Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber lediglich 2885 Jobs über die Agentur in die Vermittlung gaben. In den Jahren seit 2008 waren niemals weniger als 3000 Jobs über den Jahresverlauf im Angebot. Nun ist ein neues Minimum erreicht. „Die Betriebe werden vorsichtiger“, so Kochs Beobachtung, nach dem Motto: „Im Moment erst mal nicht.“ Gegenläufiges Phänomen, das für Koch trotz allem einen Arbeitskräftemangel markiert: Es dauert heute wesentlich länger als etwa im vergangenen Jahrzehnt, vakante Stellen zu besetzen, 137 Tage im Schnitt.
Das liegt laut Koch etwa darin begründet, dass Arbeitgeber hohe Qualitäten suchen. Bei rund 85 Prozent der Stellenangebote sei das Anforderungsniveau mindestens eine ausgebildete Fachkraft. So waren zum Jahreswechsel noch mal 23,5 Prozent weniger Helfer-Stellen im Angebot, aber auch 10,7 Prozent weniger Fachkraft-Stellen.
Mülheims Jobcenter-Chef sieht viele Branchen mit Berufschancen
Agentur und Jobcenter sind gefordert. Agentur-Chef Koch etwa betont ein Beispiel aus der Branche der Garten- und Landschaftsbauer. Die Branche hat mit einem unvergleichbar hohem Stellen-Minus in 2023 zu kämpfen. Nicht aber, weil die Auftragslage so mau sei, so Koch, sondern weil die Firmen keine neuen Fachkräfte fänden, wenn Mitarbeiter ausscheiden. Betroffene Firmen gingen längst neue Wege, gäben auch Bewerbern eine Chance, die womöglich mit einem oder mehreren Makeln vorstellig werden. Wie Ende 2023 hebt Koch den Mülheimer Garten- und Landschaftsbaubetrieb Schröer hervor. Bei ihm haben ein Immigrant aus dem Irak, ein ehemaliger Altenpfleger und ein Student eine Lehre gestartet.
Quereinsteigern Chancen geben, Menschen mit Sprachbarrieren oder anderen Vermittlungshemmnissen – das ist der Appell, mit dem auch der Leiter des Mülheimer Jobcenters, Oliever Vrabec, 2024 in die Offensive gehen will. Obwohl weniger freie Stellen gemeldet werden, sieht er „viele Bereiche aufnahmefähig“. Er will bei Arbeitgebern darum werben, Bewerber erst mal aufzunehmen. Die Arbeitsmarktbehörden könnten dann begleitend zur Ausbildung oder Einarbeitung mit Qualifizierung und Coaching helfen.
Mülheim will 2024 eine Vermittlungsoffensive starten
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Helfen soll dabei die „Vermittlungsoffensive NRW“, ein Landes-Pendant zum „Jobturbo“, den die Bundesregierung gezündet hat. So sollen nicht nur die vielen Ukraine-Flüchtlinge schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden. Alle Klienten, die in den vergangenen zwei Jahren neu in die Betreuung gekommen sind, sollen in den Fokus genommen, intensiv beraten und qualifiziert werden, womöglich schon „on the job“. In Mülheim werde sich ein Team des Jobcenters mit zwölf Mitarbeitern speziell darum bemühen, so Vrabec. Eine „enge Taktung“ im Kontakt zu den Arbeitslosen ist geplant. Mindestens alle vier Wochen soll es einen persönlichen Kontakt geben, „um die Menschen möglichst schnell in Jobs zu vermitteln“, so Vrabec.
Ob da jenseits von raren Helferjobs was zu machen sein wird, muss sich zeigen. Die Agentur für Arbeit jedenfalls listet zahlreiche Branchen auf, in denen Fachkräfte dringend gesucht würden: in Gartenbauberufen, in Produktion und Fertigung, in der Baubranche, in der IT, bei Verkehr und Logistik, im Verkauf, in beratenden und verwaltenden Berufen, im Gesundheits- und Sozialwesen und auch bei Werbung und Marketing. Vrabec hofft, dass auch höher qualifizierte ausländische Arbeitskräfte trotz Sprachbarrieren schneller in Jobs zu bringen sind, wenn Arbeitgeber offen dafür sind. Sie könnten in Teams eingesetzt werden, um dort in die deutsche Arbeitswelt hineinzuwachsen.
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