Kreis Kleve. Moderne Sklaverei im Kreis Kleve: Rumänische Leiharbeiter berichten, wie widrige Wohnverhältnisse das Wohl ihres Babys gefährdeten.

  • Rumänische Leiharbeiter berichten, unter welchen Umständen sie im Kreis Kleve leben müssen.
  • Sie arbeiten in der niederländischen Fleischindustrie – und müssen 800 Euro für 20 m2 Miete zahlen.
  • Ihr Baby musste auf Amtsanordnung in eine Pflegefamilie; Vermieter möchte das Baby nicht im Haus haben.
  • Leiharbeiter haben Angst vor Gewalt und Repressalien.

Seit gut einem halben Jahr lebt das rumänische Leiharbeiterpaar hier: Ein winziges Zimmer, knapp 20 Quadratmeter, für zwei Erwachsene. Ein Kinderwagen, ein Spielteppich und ein Maxi-Cosi deuten darauf hin, dass hier eigentlich noch ein Baby untergebracht werden müsste. Doch das hat der niederländische Arbeitgeber, der auch Vermieter der ärmlichen Unterkunft ist, lange verboten. 800 Euro zahlen die beiden Arbeiter aus Rumänien für das einfache Zimmer in einer Grenzgemeinde im Kreis Kleve. Im begehrten Köln-Lindenthal ist es billiger.

Viel schuften für wenig Geld

Pagonis Pagonaniks kann es nach dem Besuch dieses Zimmers nicht fassen, welche Parallelwelten sich mittlerweile im Kreis Kleve etabliert haben: Hier die schönen Einfamilien- und Reihenhäuser, und gleich daneben das schlecht verwaltete Mehrfamilienhaus, in dem die Briefkästen kaputt sind, die Zimmer schlampig gestrichen, auf dem Klingelschild zig Namen stehen und man schon von außen bereits ahnt: Hier wohnen osteuropäische Leiharbeiter, die für wenig Geld sehr viel schuften müssen, damit auf deutschen Tellern ein billiges Schweineschnitzel landet. Pagonis Pagonakis kämpft im Auftrag des Landes NRW gegen diese ausbeuterischen Strukturen am Niederrhein. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen.

Pagonis Pagonakis bekämpft unmenschliche Leiharbeiterstrukturen in der Grenzregion.
Pagonis Pagonakis bekämpft unmenschliche Leiharbeiterstrukturen in der Grenzregion. © NRZ | Andreas Gebbink

Besonders gravierend ist der Fall der beiden rumänischen Arbeiter, nennen wir sie Eugen und Valea. Sie wollen nicht mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit stehen und auch nicht, dass bekannt wird, in welcher Kommune im Kreis Kleve sie leben. Sie haben Angst vor ihrem Arbeitgeber, Angst vor Gewalt und Repression.

Krankenhauskosten im sechsstelligen Bereich

Eugen und Valea haben sich im Kreis Kleve kennengelernt. Im Winter erkrankte der Mann an einer bakteriellen Atemwegserkrankung und konnte mehrere Wochen nicht arbeiten. Er musste ins Krankenhaus und auch das frisch geborene Baby, welches jetzt ein paar Monate alt ist, hatte sich angesteckt. Während des Krankenhausaufenthalts konnte Eugen nicht arbeiten, aber die Zeitarbeitsfirma zahlte ihm auch keinen Lohn.

Im Gegenteil: Eugen bekam eine Lohnabrechnung mit einem Minusbetrag: Er schuldete seinem Arbeitgeber einen hohen vierstelligen Betrag, den er nun wieder abarbeiten muss. Das Schuldenkonto bei seinem Arbeitgeber ist inzwischen enorm angewachsen: Miete und Krankenkassenbeiträge werden ihm abgezogen. Zulässig sind Minus-Abrechnungen nicht, und dennoch geschieht es.

Die neue Beraterin für Leiharbeiter im Kreis Kleve: Nicoleta Badulescu.
Die neue Beraterin für Leiharbeiter im Kreis Kleve: Nicoleta Badulescu. © FUNKE Foto Services | Thorsten Lindekamp

Die Erkrankung von Eugen verursachte auch enorme Kosten für einen Krankenhausaufenthalt. Es handelte sich um einen sechsstelligen Euro-Betrag, von dem nicht klar war, wer ihn bezahlen würde. Eugen ist in den Niederlanden beschäftigt und sozialversichert, wohnt aber in Deutschland. Pagonis Pagonakis und Nicoleta Badulescu, die für die Organisation Arbeit und Leben tätig sind, haben sich der Sache angenommen und sie haben es nach enormen Anstrengungen geschafft, dass niederländische und deutsche Krankenkassen kooperieren und diesen Betrag übernahmen.

Vermieter verweigert die Wohnungsbescheinigung

Die größte Sorge gilt jedoch dem Baby, das auf Anordnung des Jugendamtes in einer Pflegefamilie lebt. Während der schweren Erkrankung in den Wintermonaten funktionierte die Heizung im Zimmer des Arbeiterpaares nicht. Für das Amt ein wichtiges Warnsignal für eine Kindeswohlgefährdung. Vorsorglich wurde das Kleinkind aus der Wohnung genommen. Die Mutter kann es regelmäßig besuchen und sie hoffen nun darauf, dass das Baby bald wieder zu den Eltern zurückkehren kann.

Das Zeitarbeitsunternehmen ist damit jedoch nicht einverstanden. Als Vermieter weigert sich das Unternehmen, eine Wohnungsbescheinigung für das Kleinkind auszustellen. Und nur mit dieser Bescheinigung könne das Kind bei der Kommune angemeldet werden. Der Vermieter ist verpflichtet, diese Bescheinigung auszustellen, tut dies aber nicht.

Diese Menschen sprechen kein Deutsch. Sie gehen nicht zur Polizei, um eine Anzeige zu erstatten.
Pagonis Pagonakis, - Projektleiter von Arbeit und Leben.

Ausbeutung in der Grenzregion

Auch wenn die Ausbeutung von Eugen und Valea drastisch ist, sieht es bei anderen Leiharbeitern in der Fleischindustrie kaum besser aus. Wie viele Menschen in der niederländischen Fleischindustrie arbeiten und in der deutschen Grenzregion wohnen, ist nicht bekannt. Die Rede ist von mehreren Tausend Arbeitern. Erst nach drei Monaten müssen die Männer und Frauen bei einer Kommune gemeldet werden. Meist sind sie dann aber schon in einer anderen Gemeinde untergebracht. Das System hat Methode und auch nach vielen baurechtlichen Verbesserungen geht die Ausbeutung der Osteuropäer im deutsch-niederländischen Grenzgebiet einfach weiter.

Was wird getan?

Eine schnelle Lösung für diese Arbeitsausbeutung gibt es nicht. Im Februar gab es eine Fachtagung zum Thema, auf der deutsche und niederländische Kommunen ihre Bereitschaft erklärten, enger zusammenzuarbeiten. Die Grenzkommunen wollen keine „Horrorviertel“ haben. Kleves Bürgermeister Wolfgang Gebing betonte im Februar, wie wichitg es sei, einen direkten Kontakt zu den Leiharbeitern zu haben. Dolmetscher seien notwendig.

Immer wieder werden Ansätze zur Verbesserung der Situation genannt: So wäre eine schnellere Meldepflicht bei den Einwohnermeldeämtern hilfreich oder ein Verbot, dass ein Arbeitnehmer gleichzeitig Wohnungsvermieter sein darf. Auch eine Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für solche Fälle wäre sinnvoll.

Die Organisation Arbeit und Leben wird vom NRW-Arbeitsministerium, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der VHS NRW getragen. Ansprechpartnerin für Leiharbeiter in der Grenzregion ist Nicoleta Badulescu: 0160/96 96 40 33.

Das Beispiel von Eugen und Valea zeigt, was passiert, wenn Leiharbeitsfirmen ihre Arbeitnehmer nach Strich und Faden ausbeuten wollen. Wenn nicht der Wille zu einem guten Arbeitsverhältnis im Vordergrund steht, sondern die gnadenlose Gier nach noch mehr Geld. Was die Arbeiter in den niederländischen Fleischfabriken verdienen, geben sie für völlig überhöhte Mieten für Bruchbuden wieder aus. Das Geld landet immer in den Taschen der Unternehmer. Bei Eugen und Valea liegt sicherlich ein Fall von Mietwucher vor, meint Pagonakis. Aber warum tut sich nichts?

Angst vor Gewalt

„Diese Menschen sprechen kein Deutsch. Sie gehen nicht zur Polizei, um eine Anzeige zu erstatten“, sagt Pagonis Pagonakis. Hinzu kommt die große Angst vor Gewalt. „Wer nicht spurt, muss mit Einschüchterungsversuchen des Arbeitgebers rechnen“, sagt er. Vor allem die Vermittler seien bereit, körperliche und psychische Gewalt anzuwenden, berichtet Nicoleta Badulescu. Pagonakis und Badulescu haben Einblick in die Lohn- und Krankenhausabrechnungen des rumänischen Paares.

Die Freizügigkeit funktioniert für Menschen aus Westeuropa, aber nicht für Leiharbeiter aus Osteuropa.
Benjamin Rauer, - Landtagsabgeordneter der Grünen.

Bei der Besichtigung der Unterkunft waren neben der NRZ und der ARD auch die grüne Europaabgeordnete Alexandra Geese sowie Benjamin Rauer, der für die Grünen im Landtag sitzt, vor Ort. Für Rauer ist klar, dass die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit hier systematisch ausgenutzt wird: „Die Freizügigkeit funktioniert für Menschen aus Westeuropa, aber nicht für Leiharbeiter aus Osteuropa.“ Er ist der Meinung, dass man für diese Gruppe ähnliche Hilfsangebote schaffen müsse wie für Flüchtlinge: Sie brauchen Sprachkurse und Unterstützung.

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Alexandra Geese möchte die Leiharbeiterproblematik auf europäischer Ebene besprechen. Die Abgeordnete des EU-Parlaments zeigte sich schockiert ob der familiären Situation von Eugen und Valea. Sie hofft, dass sie ihr Kind bald wieder bekommen. Übrigens: Wenn das Baby einzieht, wird die Miete erhört, kündigte der Vermieter an: 100 Euro zusätzlich.

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