Essen. Shadi Azzam sagt, das Asylrecht zeige, wie ernst Deutschland die Menschenrechte nimmt. Manche nutzten es aber aus
Shadi Azzam sitzt in seinem kleinen Büro in der Essener Innenstadt. Hinter seinem Schreibtisch hängt eine hölzerne Karte der Welt. Er zeigt auf einen Punkt in der Region Naher Osten. Der Norden von Syrien. Dort liegt die Großstadt Qamischli. Von dort ist Azzam vor fast einem Vierteljahrhundert nach Deutschland gekommen. „Das Asylrecht ist ein wesentliches Mittel zum Schutz der Menschenrechte“, sagt er. „Aber seine Umsetzung sollte besser kontrolliert und geregelt werden. Wir brauchen schnellere Abschiebungen.“
Artikel 16a Grundgesetz, Absatz 1
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“
Azzam kommt Anfang 2000 mit seinem Vater und seiner Mutter in Deutschland an. Die Familie ist kurdisch. Der Vater ist Schriftsteller und hat Bücher über kurdische Geschichte, Sprache und Tradition verfasst. Im Assad-Regime wird die kurdische Identität unterdrückt. Azzams Vater landet zweimal hinter Gittern. Ende 1999 flieht die Familie aus Syrien. Vater und Mutter erhalten Asyl. Und das, obwohl die deutsche Politik sieben Jahre zuvor das Grundgesetz geändert und das Grundrecht auf Asyl extrem eingeschränkt hat.
In der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes stand im Artikel 16, Absatz 2, ganz einfach und ohne jede Einschränkung: „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Es ist eine Lehre aus der Nazi-Zeit, in der viele Deutsche ins Ausland fliehen mussten, weil sie von dem mörderischen Regime verfolgt wurden.
Grundgesetz-Änderung in den neunziger Jahren - der Asylkompromiss
In den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der Bundesrepublik bleibt dieser Artikel unangetastet, nur wenige Flüchtlinge kommen. In den achtziger Jahren steigen die Zahlen dramatisch. Die Parole „Das Boot ist voll“ wird populär. Als nach der Wiedervereinigung Flüchtlingsheime angegriffen und Menschen von Rechtsextremisten getötet werden, reagiert die Politik, indem sie den Asylkritikern entgegenkommt: Sie verschärft das Asylrecht.
Der Widerstand in der Zivilgesellschaft gegen den „Asylkompromiss“ ist groß, im November 1992 demonstrieren Hunderttausende im Bonner Hofgarten gegen die Pläne. Bei der finalen Abstimmung am 26. Mai 1993 blockieren Demonstranten den Zugang zum Bundestag, manche Bundestagsabgeordnete müssen per Hubschrauber eingeflogen oder mit dem Schiff zum Parlament gebracht werden. Die Proteste sind vergebens: Union, FDP und Teile der SPD stimmen für die Änderung des Grundgesetzes. Seitdem existiert der Paragraf 16a.
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Auch in ihm heißt es zunächst: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Die darauf folgenden Absätze schränken dieses Recht jedoch deutlich ein. Wer aus einem anderen EU-Land oder einem sicheren Drittstaat einreist, kann kein Asyl in Deutschland bekommen. Heißt: Nur wer über den Luft- oder den Seeweg kommt, hat noch eine Chance. Das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ wird eingeführt, das sind Länder, in denen die Einhaltung der Menschenrechte gewährleistet sein soll.
Sieben Jahre nach dem Asylkompromiss erhalten Vater und Mutter Azzam Asyl. Sohn Shadi ist zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Ein Jahr später, als er volljährig wird, soll er nach Syrien abgeschoben werden. Er gilt nicht als politisch Verfolgter. „Das war eine schreckliche Zeit. Ich war wochenlang nicht zu Hause. Syrer wurden damals direkt von zu Hause abgeholt und abgeschoben.“ Die Familie kämpft juristisch, damit Shadi in Deutschland bleiben kann. In Asylverfahren können neben Asyl drei andere Schutzformen vergeben werden: die Anerkennung als Flüchtling, subsidiärer Schutz oder ein Abschiebungsverbot.
Shadi Azzam arbeitet jetzt als Dolmetscher und sitzt in Anhörungen
2007 erhält Shadi einen Aufenthaltstitel. Zu diesem Zeitpunkt hat er schon sein Abitur beendet und ein Studium begonnen. 2010 wird er eingebürgert. Die Integration in die Gesellschaft hätten „viel Mühe und Durchhaltevermögen“ erfordert, sagt er. Jetzt arbeitet er als Dolmetscher, unter anderem für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Er übersetzt in den Anhörungen, nach denen darüber entschieden wird, ob ein Flüchtling Asyl bekommt. „Viele nutzen das Asylrecht aus“, sagt er.
„Ein Marokkaner hat gesagt, ihm sei klar, dass er kein Asyl bekommen wird. Er hat gefragt, wie lange es wohl dauert, bis er abgeschoben wird. Die Zeit wolle er in Deutschland genießen.“ Als der sogenannte Islamische Staat sein Terrorkalifat errichtet, übersetzt Shadi Azzam in den Anhörungen die Aussagen fundamentalistischer Menschen, die sagen, die Scharia gelte ihnen mehr als das Grundgesetz. „Es wurde zu wenig getan, um Extremisten herauszufiltern.“
In den vergangenen Jahren ist das Asylrecht weiter beschnitten worden. Im vergangenen Jahr beschließt die EU die Einrichtung grenznaher Flüchtlingslager, in denen Asylverfahren für Menschen aus bestimmten Ländern bereits jenseits der Europäischen Union entschieden werden sollen. Im Februar dieses Jahres beschließt die Bundesregierung eine Ausweitung der Dauer des Ausreisegewahrsams und der Abschiebehaft. Das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ stößt auf scharfe Kritik. „Die Landesregierung darf die vorgesehenen und politischen Befindlichkeiten geschuldeten Grundrechtseinschränkungen nicht umsetzen“, fordert Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW.
Die Grünen haben die Verschärfungen trotz vehementer Kritik auch aus ihrer Parteijugend mitgetragen. „Wir müssen Migration so strukturieren, dass diejenigen, die ein Anrecht auf Asyl haben, dieses Recht auch einlösen können“, sagt die nordrhein-westfälische Flüchtlingsministerin Josefine Paul. Der Schutz von Menschen, die vor Krieg oder Verfolgung flöhen, sei ein „Lackmustest für unsere Demokratie“. Die Grünenpolitikerin betont jedoch auch: „Am Ende rechtsstaatlicher Verfahren kann aber auch die Verpflichtung zur Ausreise stehen.“ Irreguläre Migration müsse auch durch die Stärkung legaler Migrationswege reduziert werden.
Shadi Azzam sagt: „Als jemand, der in Deutschland Schutz gefunden hat, möchte ich meine Dankbarkeit für die Aufnahme und die Sicherheit, die mir dieses Land bietet, ausdrücken.“ Er sei stolz. Teil einer Gesellschaft zu sein, die Vielfalt und Integration fördere und sich für die Rechte aller Menschen einsetze.
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