Washington/Kalamazoo. Ex-First Lady liefert das bisher effektivste Argument im Streit um Abtreibung. Mit bebender Stimme redet sie den Männern ins Gewissen.
Im August in Chicago sprach Michelle Obama in einer wie ein Gottesdienst aufgenommen Rede von der „ansteckenden Macht der Hoffnung“, die von der Kandidatur Kamala Harris‘ ausgehe. „Etwas wundervoll Magisches liegt in der Luft, habe ich nicht recht?“, fragt sie mit einem strahlenden Zahnpasta-Lächeln die Delegierten des Demokraten-Parteitages, der damals in elektrisierender Aufbruchsstimmung war.
Zweieinhalb Monate später ist die Leichtigkeit komplett verflogen. Die frühere First Lady, neben ihrem Mann Barack Obama die rhetorische Urgewalt schlechthin bei den Demokraten, ist wenige Tage vor der Wahl um das Weiße Haus regelrecht in Angst und Schrecken.
Michelle Obama über Donald Trump: „Was in aller Welt ist da los?“
Sie kann das Kopf-an-Kopf-Rennen mit Donald Trump nicht verstehen, gesteht sie am Samstagabend im Bundesstaat Michigan vor Tausenden Harris-Anhängern ein. „Nachts liege ich wach und frage mich: Was in aller Welt ist da los?”.
Abgesehen von einem kleinen Wortspiel („Sind wir in Kalamazoo oder in Kamalazoo?”) gerät die Rede der 60-Jährigen zu einem flehenden, streckenweise wütenden Weckruf an Amerika, „uns nicht ablenken zu lassen und dem Betrug zu verfallen”, sprich: Donald Trump ein zweites Mal die Schlüssel zur Macht auszuhändigen.
„In den letzten acht Jahren ist Donald Trump noch verwirrter, instabiler und wütender geworden“
„Wir haben nicht 2016 oder 2020 – es steht noch mehr auf dem Spiel“, sagt sie. „Denn in den letzten acht Jahren ist Donald Trump noch verwirrter, instabiler und wütender geworden, und es ist klar, dass er zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät.“
Michelle Obama, erkennbar verschnupft und besorgt, sagt, dass sich Kamala Harris „in einem kritischen Moment, in dem unser Land sie brauchte, vorbereitet gezeigt hat”. Sie habe bewiesen, wie ein „besonnener, stabiler Führer aussieht” – und das „mit Kraft und Würde”. Harris sei im Unterschied zu ihrem Gegner eine Erwachsene. „Und bei Gott, wir brauchen eine Erwachsene im Weißen Haus.”
Anders als Trump habe sie einen konkreten Plan vorgelegt, um das Land nach vorn zu bringen. Sie könne darum gar nicht verstehen, warum das das Rennen um die Präsidentschaft nicht längst entschieden sei. „Die eigentliche Frage ist, ob wir als Land für diesen Moment bereit sind.“
Ohne die Umfragen zu erwähnen, die de facto ein Patt verheißen, gesteht sie, „wirkliche Angst um unser Land und unsere Kinder zu haben, wenn wir vergessen, was auf dem Spiel steht”.
Dann nimmt sie sich mit fast mütterliche Strenge jene vor, die vorgeben, sie wüssten nicht genug über Harris, seien sich ihrer nicht sicher. „Glaubt nicht an die Lüge, dass wir nicht wüssten, wer sie ist und wofür sie steht. Sie ist ein außergewöhnlicher Mensch, eine außergewöhnliche Kandidatin und sie wird eine außergewöhnliche Präsidentin sein.”
Über Donald Trump: keine Ehrlichkeit, kein Anstand, keine Moral
Michelle Obama ist davon überzeugt, dass die Maßstäbe bei Kamala Harris verschoben sind. „Wir erwarten, dass sie intelligent und wortgewandt ist, klare politische Grundsätze hat, nie zu viel Wut zeigt und immer wieder beweist, dass sie dazugehört. Aber von Trump erwarten wir überhaupt nichts, kein Verständnis für Politik, keine Fähigkeit, ein kohärentes Argument zusammenzustellen, keine Ehrlichkeit, keinen Anstand, keine Moral.“
Die Sätze sind der Einstieg in eine der brutalsten und laut US-Medien effektivsten Demontagen des früheren Präsidenten, die in den vergangenen Jahren in Amerika zu hören waren. „Inkompetenz, Korruption und Chaos” seien die zentralen Merkmal seiner Präsidentschaft von 2017 bis 2021 gewesen, sagt sie und erinnert an seine „kindischen, böswilligen Allüren”.
Minutiös rekapituliert sie Trumps Corona-Bilanz. „Wir hatten eine der höchsten Todesraten auf der ganzen Welt und haben Millionen mehr Jobs verloren als Europa.”
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Als Amerika Trump aus einem Job „gefeuert“ hat, der für ihn „von Anfang zu groß war”, habe er einen Aufstand angezettelt. Viele aus seinem engsten Umkreis – fast das halbe ehemalige Kabinett sowie Generäle und Kongress-Abgeordnete sagten heute: Nie wieder Trump!
Auch wenn sie nachvollziehen könne, warum viele Menschen frustriert darüber seien, dass der Fortschritt zu langsam vonstatten gehe, will Michelle Obama nicht akzeptieren, wenn Wähler der Wahlurne fernbleiben oder aus Protest einen Dritt-Kandidaten wählen.
„Ich bete, dass die Leute aufwachen, die diese Wahl aussitzen wollen.” Trumps „Hässlichkeit”, sagt sie, „wird uns früher oder später alle berühren“, wenn er wieder Präsident werden sollte. Hässlichkeit und „Gefährlichkeit”.
In ihrem fulminanten Schlussteil geht Michelle Obama tief in das Kleingedruckte der Misere, die sich für zigtausende Frauen ergeben habe, seit Trump via Obersten Gerichtshof das Recht auf Abtreibung schreddern ließ.
Michelle Obama spricht leidenschaftlich, fast mit bebender Stimme über die reproduktive Gesundheit von Frauen und beschreibt, wie einigen von ihnen inzwischen die lebensrettende Behandlung verweigert wurde, seit die 50 Bundesstaaten individuell über das Thema Abtreibung entscheiden dürfen. „Stellen Sie sich nur die tiefgreifenden Auswirkungen vor, die ein Wahlsieg von Donald Trump für uns alle hätte.”
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„Trump weiß nichts über uns“, ruft sie wütend in den Saal, „eine Stimme für ihn ist eine Stimme gegen uns und unsere Gesundheit.” Nur Frauen und deren Ärzte dürfen nach ihrer Überzeugung über die grundlegenden Fragen beraten und entscheiden, die mit einer Schwangerschaft zu tun haben. Dann wendet sich Michelle Obama direkt an die Männer der Nation, die laut Umfragen derzeit mehrheitlich zu Trump tendieren.
Sie appelliert an ihr Gewissen, so direkt, effektiv und leidenschaftlich wie kaum jemand vor ihr. „Wenn wir diese Wahl nicht richtig machen, werden Ihre Frau, Ihre Tochter, Ihre Mutter, wir als Frauen zum Kollateralschaden Ihrer Wut. Sind Sie als Männer also bereit, den Frauen, die Sie lieben, in die Augen zu schauen und ihnen zu sagen, dass Sie diesen Angriff unterstützt haben?”
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