An Rhein und Ruhr. NRZ-Volontär Ahmad Shihabi floh als junger Mann vor Assads Terrorschergen. Auf seinem Weg erlebte er viel Leid und den Tod. Warum er nie aufgab.
An diesem kalten Mittwoch im Dezember müsste es mir eigentlich warm ums Herz werden. Denn ich halte die Dokumente in den Händen, die mir offiziell das Recht geben, endlich ein Teil dieses Landes zu sein. Doch meine Gedanken suchen sich den Weg aus dem Einbürgerungsbüro der Stadt Herne fort in ein anderes Land, mit dem ich seit dem vergangenen Wochenende neben Angst und Hoffnung wieder unendliche Sehnsucht verbinde: Syrien.
Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, wo ich Fußball auf der Straße spielte, wo ich zur Schule ging, in dem ich freitags mit der Familie das traditionelle Mittagsessen hatte. Geboren bin ich in einem Flüchtlingslager südlich von Damaskus. Dort lebten meine Eltern, nachdem sie aus Palästina infolge des Krieges 1948 geflohen sind. Es war eine schöne Zeit: meine Kindheit, meine Jugend mit meiner Familie. Bis 2011.
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Ab diesem Zeitpunkt wurde Syrien für mich zu einem Ort des Schreckens, des Krieges, der Verhaftungen und der Zerstörung. Der Krieg, der mit friedlichen Protesten für Freiheit und Demokratie begann, hat unser Leben in Stücke gerissen - so wie die Checkpoints der Assad-Armee die syrischen Städte in Ghettos verwandelt haben. Als Folge sind meine Familie und ich nun auf drei Länder verteilt. Doch seit letztem Sonntag ist ein Wiedersehen nach dreizehn Jahren in greifbare Nähe gerückt. Nachdem die Rebellen das diktatorische Regime von Baschar al-Assad gestürzt haben. Ein historischer Tag, von dem viele Syrerinnen und Syrer geträumt haben.
Umsturz in Syrien: Um 3.13 Uhr ist Assad Geschichte
An diesem 8. Dezember konnte ich nicht schlafen, weil ich Assads Sturz miterleben wollte. Ich war ungeduldig und wollte diesen historischen Moment nicht verpassen. Über WhatsApp telefonierte ich mit meinen Eltern in Syrien und meinen Geschwistern im Libanon, gleichzeitig verfolgte ich die Nachrichten. Sieben Stunden später: um 3.13 Uhr ist Assad Geschichte.
Mir laufen die Tränen über meine Wangen. Ich erinnere mich sofort an meinen Onkel, meinen Cousin und viele Freunde, die in Assads Foltergefängnissen verschwunden sind. An meinen zweiten Onkel, den Journalisten, der vor den Augen seiner fünfjährigen Zwillinge durch zwei Kopfschüsse sein Leben verlor.
Diesem Onkel verdanke ich, dass ich, ein ausgebildeter Informatiker, seit 2009 als Journalist arbeite. Ghassan Shihabi war als Journalist mein Vorbild. Denn wie er immer sagte: „Als Journalisten müssen wir die Stimme der Menschen in die Öffentlichkeit tragen“. Aber in einer Diktatur ist das unmöglich und sehr gefährlich. Trotzdem habe ich versucht, in Damaskus meine Arbeit bei einem Magazin fortzuführen, trotz meiner von Assads Armee zerstörten Wohnung, meiner Inhaftierung, der Bombardierungen und heftigen Kämpfen.
Kinder, die nicht wissen, was ein Vogel ist
Seit Assads Sturz schaue ich mir die Fotos von befreiten Gefangenen in Assads Gefängnissen an und sehe Menschen, die seit Jahren kein Licht mehr gesehen haben. Kinder, die im Gefängnis geboren wurden und nicht wissen, was ein Vogel ist.
Andere haben Angst und glauben nicht, dass sie freigelassen wurden. Sie halten es für einen Trick von Assads Soldaten, um sie zu demütigen und psychisch zu unterdrücken. Ich durchsuche jedes neue Foto und Video, die Namen der Freigelassenen, die hinterlassenen Gefängnisakten und sogar Fotos von Leichen nach Menschen, die ich in den letzten Jahren verloren habe. Meinen Onkel, meinen Cousin, meine Freunde, die in diesem Land gewaltsam verschwunden sind. Auch viele Arbeitskollegen haben es nicht überlebt. Allein die Organisation Reporter ohne Grenzen hat mehr als 180 Journalisten dokumentiert, die von Assads Armee getötet wurden.
Wäre ich heute einer der Menschen, die ihr Leben im Gefängnis verloren haben?
Wir durften damals weder trauern noch sie beerdigen, wenn sie für tot erklärt wurden. Doch die aktuellen Bilder aus Damaskus haben die tiefsten Wunden der Syrerinnen und Syrer aufgerissen und in ein kollektives Trauma gestürzt. In dieser Nacht brechen die Gedanken über mich herein: was wäre gewesen, wenn ich damals nach meiner willkürlichen Festnahme nicht frei gekommen wäre? Wäre ich einer von diesen vielen Menschen, die ihr Leben in der Dunkelheit der Assad-Gefängnisse verloren haben?
Zum Glück habe ich überlebt, trotz der gefährlichen Arbeit für Journalisten. Ich lebte damals in ständiger Angst, verhaftet oder getötet zu werden. Der Himmel über Damaskus war voller Bomben, bewaffnete Auseinandersetzungen am Stadtrand, der Tod war überall. Das hat mich völlig verstört und meine Träume auf Eis gelegt.
Mein Weg in eine bessere Zukunft
Aufgeben war keine Option. Ich wollte mein Ziel erreichen, als Journalist in einem freien Land zu arbeiten, in dem die Pressefreiheit gewährleistet ist. Dazu musste ich mit meiner Freundin das Land verlassen. Das war nicht einfach. Denn syrische Palästinenser dürfen nicht ins Ausland reisen, weil sie weder syrische noch palästinensische Dokumente haben. Es gab für uns nur einen Weg: illegal über die Grenze in die Türkei.
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In dem Moment, in dem viele Menschen auf der Welt Angst vor dem Islamischen Staat (IS) hatten, haben meine Freundin und ich beschlossen, ausgerechnet den Weg zu nehmen, der vom IS kontrolliert wird. Dafür mussten wir heiraten, den Koran auswendig lernen und meine Frau musste sich verschleiern. Also verabschiedeten wir uns von Freunden und fuhren am nächsten Tag mit einem Schleuserbus von Damaskus an die türkische Grenze.
Der Leuchtturm als Hoffnung
Nach etwa 40 Stunden kamen wir Anfang September 2014 in Istanbul an. Das Leben dort ähnelt dem in Damaskus vor dem Krieg. Die Häuser stehen dicht an dicht, Nachbarn laden sich ständig ein und die Nächte sind magisch. Dort habe ich ein paar Tage später als Kellner gearbeitet. Meine Frau bekam dank ihrer guten Englischkenntnisse eine Stelle in einem Familienunternehmen. Aber wir hatten weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch eine Krankenversicherung.
Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal. Ich musste mehr als zwölf Stunden pro Tag für etwa drei Euro arbeiten. Von Tag zu Tag verlor ich den Lebensmut. Wir waren Fremde in einem fremden Land. Diese Situation führte mich nach Absprache mit meiner Frau dazu, allein über das Meer nach Deutschland zu reisen.
Über das Meer zwischen der Türkei und Griechenland, das viele Menschen das Leben gekostet hat. Viele Kriegsflüchtlinge sind vor dem Tod in ihrem Land geflohen, aber sie sind in diesem Meer ertrunken. Aber daran wollte ich nicht denken. Denn dieser Weg war für mich die letzte Hoffnung auf ein besseres und menschenwürdiges Leben.
Mitte Mai 2015 stieg ich mit etwa fünfzig anderen Flüchtlingen in das kleine Gummiboot, obwohl ich nicht schwimmen kann. Ich hatte Angst, ins Wasser zu fallen. Aber mein Traum von einem besseren Leben flackerte jedes Mal auf, wenn der Leuchtturm der griechischen Insel in unsere Richtung strahlte.
Ich habe es geschafft
Einen Monat später, im Juni 2015, ist meine Reise von Griechenland über die Balkanroute zu Ende. Endlich bin ich in Deutschland. Nach einer langen, schrecklichen Reise bin ich lebend und unverletzt angekommen. Ich stand vor dem Nürnberger Hauptbahnhof und dachte an all das, was ich unterwegs erlebt hatte. Ich hatte mir vorgenommen, mir ein neues Leben aufzubauen und meinen Träumen zu folgen, solange ich konnte.
Nach einem langwierigen Asylverfahren erhielt ich als anerkannter Flüchtling eine Aufenthaltserlaubnis. Der erste Schritt war geschafft: Ich durfte in Deutschland bleiben. Das war ein großer Moment. Durch den Familiennachzug konnte später auch meine Frau nach Deutschland kommen. Wir haben sofort begonnen, Deutsch zu lernen - mithilfe von Deutschkursen und Youtube-Videos. Meine Frau wollte studieren und ich als Journalist in Deutschland arbeiten. Mittlerweile sind unsere beiden Kinder hier geboren. Ghassan Hans (7) und Maxim (4) gehen zur Schule und in den Kindergarten.
Wann gehören gut integrierte Syrer zu Deutschland?
Richtig Fuß fassen, richtig ankommen, dieses Gefühl hatte ich aber erst Anfang 2019, als ich meine erste Stelle als Redaktionsassistent antrat. Nach drei Jahren bekam ich die größte Chance meines Lebens, als Volontär bei der NRZ zu arbeiten, und schreibe Ihnen gerade meine Geschichte. Eine gelungene Integration. Oder?
Wenige Stunden nach dem Sturz Assads wird in Deutschland leider über die Rückkehr syrischer Flüchtlinge diskutiert, anstatt darüber, wie Syrien bei seiner Stabilisierung unterstützt werden kann. Diese Diskussion wirft eigentlich die Frage auf, wann gut integrierte Syrer zu Deutschland gehören.
Trotz dieser Diskussion spüre ich viel Hoffnung in der syrischen Community. Viele sind optimistisch, ihr neues, hoffentlich demokratisches und freies Land aufzubauen. Mit Hilfe der gesammelten Erfahrungen in Deutschland. Ob die islamistische HTS das Land zu einer Demokratie führen wird, ist schwer zu sagen. Aber Syrerinnen und Syrer sagen, wem es gelingt, das Regime in Damaskus aus dem Palast zu vertreiben, der kann danach alles erreichen.