Mülheim. Sie wurde verglichen mit Münchens Käuferingstraße: Mülheims Schloßstraße war eine der ersten Fußgängerzonen Deutschlands. Ein Rückblick.

1968 in Mülheim geboren, gehört die von Autos und von einer Straßenbahn befahrene Schloßstraße zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen. Besonders spannend fand ich als Knirps die damals auf dem Bürgersteig stehenden Parkuhren, in die Autofahrer Münzen einwerfen mussten, um ihre Parkzeit an der Schloßstraße zu verlängern.

Und plötzlich mussten wir über Holzstege laufen und unter uns tat sich ein Abgrund auf, aus dem später eine Tiefgarage werden sollte. Der Baulärm war ohrenbetäubend. In dem Haus an der Schloßstraße 25, in dem wir damals lebten, gab es Doppelfenster, um den Straßenlärm zu mindern. Doch schalldichte Thermopanefenster kannte man damals noch nicht.

Mülheims Rasche-Brunnen mit dem Kettcar unzählige Male umfahren

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Und plötzlich entstand vor unserer Haustür eine vom Mülheimer Bildhauer Ernst Rasche aus schwarzem Granitstein geschaffene Brunnenlandschaft, zu der neben einem Säulenbrunnen auch ein Pflastersteinteppich und eine ebenfalls aus Granitstein geschaffene Kugel gehörten. Diese Brunnenlandschaft habe ich später mit meinem vom Großvater geschenkten Kettcar unzählige Male umfahren.

Besonders beliebt waren bei meinen beiden älteren Schwestern und mir die gleich zwei Eiscafés, die es nur wenige Schritte von unserer Haustüre entfernt mit Agnoli und Adria an der Schloßstraße gab. Die Eiskugel gab es dort damals für 20 Pfennige.

Als so viele Menschen auf Mülheims Schloßstraße unterwegs waren, dass man nicht umfallen konnte

Wenn wir aus unserem Küchenfenster in der vierten Etage schauten, konnten wir auf einer großen Uhr des an der Ecke Schloßstraße/Kohlenkamp gelegenen Uhrengeschäftes Deiter sehen. So wussten wir immer, was uns die Stunde geschlagen hatte.

Mülheims blühende Schloßstraße.
Mülheims blühende Schloßstraße. © Stadtarchiv
Ein Blick in die Vergangenheit der Mülheimer Fußgängerzone.
Ein Blick in die Vergangenheit der Mülheimer Fußgängerzone. © Stadtarchiv

Ich erinnere mich an ein großes Fest, mit dem die jetzt von einer Tiefgarage untertunnelte Fußgängerzone 1974 offiziell eingeweiht wurde. Ein Menschenmeer floss damals über die Schloßstraße. Die Menschen gingen und standen so dicht beieinander, dass man nicht umfallen konnte. Großzügig bepflanzte Blumenkübel; hinzu kam, etwa in der Mitte der leicht aufsteigenden Schloßstraße, eine grün bepflanzte Kanzel mit Sitzgelegenheiten.

Thomas Emons (Historiker und Journalist) wurde im Januar 2024 mit der Nikolaus-Groß-Medaille ausgezeichnet.

„Ein Menschenmeer floss damals über die Schloßstraße. Die Menschen gingen und standen so dicht beieinander, dass man nicht umfallen konnte.“

Thomas Emons

Kunden kamen aus Essen und Düsseldorf auf Mülheims Schloßstraße zum Shopping

An der Schloßstraße meiner Kindheit und Jugend gab es mit Adria und Agnoli nicht nur zwei Eiscafés, sondern mit Eduscho und Tchibo auch zwei Stehcafés, deren wundervolles Aroma aus offenen Glastüren auf die Straße strömte.

Ein Menschenmeer: Dieses Foto entstand 1974 bei der offiziellen Einweihung des neuen Hans-Böckler-Platzes und der neuen Fußgängerzone Schloßstraße, die damals bundesweit zu den ersten Fußgängerzonen gehörte. 
Ein Menschenmeer: Dieses Foto entstand 1974 bei der offiziellen Einweihung des neuen Hans-Böckler-Platzes und der neuen Fußgängerzone Schloßstraße, die damals bundesweit zu den ersten Fußgängerzonen gehörte.  © Stadtarchiv

Das die Ladenlokale an der Schloßstraße allesamt besetzt waren, erschien uns damals wie ein Naturgesetz. Das Wort Leerstand kannten wir nicht. Von Freunden und Bekannten wurden wir beneidet: „Was, an der Schloßstraße wohnt ihr? Das ist ja toll“, bekamen wir immer wieder zu hören. Und wenn wir bei Adria oder nebenan im Restaurant Wickühler saßen und mit Leuten ins Gespräch kamen, hörten wir oft den Satz: „Wir kommen zwar nicht aus Mülheim, kaufen hier aber lieber ein als in Essen oder Düsseldorf, weil es hier gemütlicher und das Preis-Leistungs-Verhältnis besser ist.“

Mülheims Fußgängerzone war Prototyp für andere deutsche Innenstädte

Lese ich heute die aktuellen Betrachtungen der damals neuen Fußgängerzone Schloßstraße etwa in den Mülheimer Jahrbüchern 1975 und 1976 nach, so wird darauf hingewiesen, dass diese Fußgängerzone mit ihrer Tiefgarage nicht nur für andere Straßen in Mülheim, sondern auch für andere deutsche Innenstädte ein Prototyp sein könne, da ihr Beispiel für den Leitgedanken stehe, „dass auch eine moderne Großstadt-City menschlich gestaltet werden kann“. Selbstbewusst wird die neue Fußgängerzone der Mülheimer City damals mit dem Vorbild aller deutschen Fußgängerzonen, der Kauferingstraße in München, verglichen.

In den 1970er Jahren: Mülheims Fußgängerzone mit ihrer Tiefgarage im Bau. 
In den 1970er Jahren: Mülheims Fußgängerzone mit ihrer Tiefgarage im Bau.  © Stadtarchiv
Mülheims Schloßstraße wurde damals mit dem Vorbild aller deutschen Fußgängerzonen, der Kauferingstraße in München, verglichen.
Mülheims Schloßstraße wurde damals mit dem Vorbild aller deutschen Fußgängerzonen, der Kauferingstraße in München, verglichen. © Stadtarchiv

Anlässlich der Eröffnung der neuen City mit ihrer Fußgängerzone an der Schloßstraße und dem City Center am neuen Hans-Böckler-Platz erklärte der damalige Oberbürgermeister Heinz Hager vor 50 Jahren: „Mit dem, was wir hier in der Innenstadt getan haben und weiterhin tun, geht es uns nicht um eine dynamische Selbstdarstellung, sondern darum, dass sich die Menschen in ihrer Stadt begegnen und wohlfühlen können. Dabei kann man Begegnung und das Überwinden von Anonymität nicht verordnen. Nur durch fröhliches Mittun, können sich Bürger ihre Stadt Erschließen und das Bewusstsein erleben: Das ist meine Stadt.“

50 Jahre City Center / Forum Mülheim - lesen Sie dazu:

Auch früher herrschte auf Mülheims Schloßstraße nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen

Ab 1978 kam mit dem Weihnachtsmarkt eine weitere Attraktion auf die Schloßstraße. Direkt vor unserer Haustür am Rasche-Brunnen stand dann immer eine Gulasch-Kanone, frei nach dem Motto: „Es ist noch Suppe da!“ Ich erinnere mich an manchen Tag im Advent, an dem bei uns die Küche kalt blieb und wir uns stattdessen eine Portion Erbsen- oder Gulaschsuppe vom Weihnachtsmarkt schmecken ließen. Und manchmal gab es dann auch ein Bratwürstchen oder einen Backfisch, der uns an die Ferien in Holland erinnerte. Und zu den ausgelegten Waren kamen im Advent auch so manches Märchendiorama in die Schaufenster an der Schloßstraße.

Der Rasche-Brunnen auf Mülheims Schloßstraße mit der Terrasse von Hotel Noy im Hintergrund.
Der Rasche-Brunnen auf Mülheims Schloßstraße mit der Terrasse von Hotel Noy im Hintergrund. © Stadtarchiv

Auch damals herrschte an der schönen neuen Schloßstraße nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Ich erinnere mich an zwei Männer, die wir dort regelmäßig auf einer Bank sitzen sahen und die von den Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand „Penner“ genannt wurden. Der ältere von beiden hatte eine weiße Haarmähne und einen weißen Vollbart, der Karl Marx hätte neidisch werden lassen können. Diese „Penner“, die ihre leergetrunkenen Bierflaschen auch schon mal Passanten hinterherwarfen, wurden regelmäßig von der Polizei mitgenommen, um schon am nächsten Tag wieder an ihrem angestammten Platz auf der Schloßstraße mit ihren neuen Bierflaschen anzustoßen.

Mülheims Schloßstraße in den 1980ern: Punks in zerschlissenen Jeans und mit Ratte

Nicht ins schöne Wirtschaftswunderbild der Schloßstraße passten auch die jungen Punks, die in zerschlissenen Klamotten, mit Irokesenschnitt und einer weißen Ratte auf der Schulter in den frühen 1980er Jahren regelmäßig mit und ohne Flasche, aber immer zum Ärger der Anwohner, Hauseigentümer und Geschäftsinhaber in so manchem Hauseingang saßen und sich das geschäftige Treiben der gutbürgerlichen Gesellschaft anschauten, um es immer wieder spöttisch zu kommentieren.

Blick auf Mülheims neue Schloßstraße Mitte der 1970er Jahre. 
Blick auf Mülheims neue Schloßstraße Mitte der 1970er Jahre.  © Stadtarchiv

Diskutiert und kommentiert wurde das Stadtgeschehen auch am Zeitungskiosk Scholl, der nach der Umgestaltung zur Fußgängerzone, dank seiner Inhaberin Dorothea Schaaf, zu einer Institution an der Unteren Schloßstraße wurde, weil sie nicht nur Zeitungen und Zeitschriften, sondern immer auch ein offenes Ohr und ein gutes Wort für ihre Kunden hatte. Gleich hinter ihrem Kiosk beherbergte das an diesem Standort 1957 errichtete Hotel Noy nicht nur auswärtige Gäste, sondern gab auch so manchen Familienfesten, ich erinnere mich an die Kommunionfeier meiner Schwester, einen glanzvollen und zugleich angenehmen Rahmen.

Harte Zeiten: Arbeitslosigkeit, Konkurrenz durch Centro und Online-Handel

In den 1980er Jahren ging das sehr reale Gespenst der zunehmenden Arbeitslosigkeit um, was auch die Konsumfreude und die Umsätze an der Schloßstraße zu trüben begann. Als die Schloßstraße Mitte der 1990er Jahre ein neues Pflaster und sogenannte Spielbrunnen bekam, die sich für so manchen als eine Stolperfalle erwiesen, hatte die Fußgängerzone an der Schloßstraße ihre besten Zeiten hinter sich.

Das damals neue Centro in Oberhausen warf seinen langen Schatten auch auf die Mülheimer Fußgängerzone. Daran konnte auch der Kurt-Schumacher-Platz nichts ändern, der die Fußgängerzone bis ins Forum City Mülheim verlängerte, das mit viel Glas und Helligkeit 1994 an die Stelle des nach 20 Jahren nicht mehr zeitgemäßen City Centers getreten war. Zur gleichen Zeit sah ich zum ersten Mal eine Internetseite, konnte mir aber nicht im Entferntesten vorstellen, wie diese technische Innovation, Stichwort Online-Handel,  nicht nur den Einzelhandel an der Schloßstraße verändern würde.

Wenn ich heute, 50 Jahre nach der Eröffnung der Fußgängerzone, über die Schloßstraße gehe, kommen mir meine Kindheitserinnerungen wie ein ferner und fast unwahrer Traum vor.

Mülheims Schloßstraße im Wandel der Zeit

Belebt: Mülheims Schloßstraße (Jahr unbekannt).
Belebt: Mülheims Schloßstraße (Jahr unbekannt). © WAZ | Stadtarchiv
Blick auf den ersten Weihnachtsmarkt auf Mülheims Schloßstraße im Jahr 1978.
Blick auf den ersten Weihnachtsmarkt auf Mülheims Schloßstraße im Jahr 1978. © Walter Schernstrein
Hier zeigt sich Mülheims Schloßstraße im Wandel der Zeit: jetzt als Fußgängerzone.
Hier zeigt sich Mülheims Schloßstraße im Wandel der Zeit: jetzt als Fußgängerzone. © WNM | Stadtarchiv
Mülheims Schloßstraße mit Woolworth im Februar 1957.
Mülheims Schloßstraße mit Woolworth im Februar 1957. © NRZ | Kulturbetrieb Mülheim
Die Mülheimer Stadtmitte 1949: Die Schloßstraße war damals noch für Autos und Straßenbahnen freigegeben.


 
Die Mülheimer Stadtmitte 1949: Die Schloßstraße war damals noch für Autos und Straßenbahnen freigegeben.   © Stadtarchiv
Mülheims Schloßstraße um 1936.
Mülheims Schloßstraße um 1936. © WAZ | Stadtarchiv

Telefonbuch 1965: Das „Who is who“ in Mülheims Innenstadt

  • Neue Ruhr Zeitung im Haus Nr. 1
  • Drogerie Höfer im Haus Nr. 4
  • Schuhe Rüter und Salamander im Haus Nr. 5 und 8.
  • Lederwaren Hermann Langhardt im Haus Nr. 17
  • Uhren Deiter im Haus Nr. 20
  • Eiscafe Adria im Haus Nr. 22
  • Tabak Wolsdorf im Haus Nr. 23
  • Gaststätte Musketiere im Haus Nr. 24
  • Schuhe van Dawen im Haus Nr. 25
  • Engel-Apotheke sowie Schirme und Stöke Robert Jeschke im Haus Nr. 26
  • Boutique Woll-Jäger im Haus Nr. 27
  • Schuhhaus Bata im Haus Nr. 28
  • Eduscho Kaffee im Haus Nr. 29
  • Hotel Noy und WMF im Haus Schloßstraße 28-30
  • Betten Haardt im Haus Nr. 31
  • Fischrestaurant Nordsee im Haus Schloßstraße 33
  • Warenhaus Woolworth im Haus Nr. 35

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