Hamburg. Bis zu 550 Unternehmenspleiten erwarten Experten in Hamburg. Welche Verfahren es gibt und was Arbeitnehmer wissen müssen.

Die Schlagzeilen bestimmen Insolvenzen schon, aber in der Statistik zeigt sich die Entwicklung noch nicht. Bis zu 550 Firmeninsolvenzen erwartet die Wirtschaftsauskunftei Crif in diesem Jahr für Hamburg. Im Vergleich mit der Vergangenheit ein niedriger Wert. Dennoch sind schon viele bekannte Namen Hamburger Firmen von der Insolvenzwelle erfasst: die Schuhkette Görtz, der Online-Hofmarkt Frischepost, der Autozulieferer Ibeo oder der Unverpackt-Händler Stückgut.

Doch Insolvenz ist nicht gleich Insolvenz. Vor allem größere Firmen wie Görtz versuchen mit abgewandelten Formen wie einem Schutzschirmverfahren oder Insolvenz in Eigenverwaltung ihre Unternehmen zu retten. Was hat es mit diesen Insolvenzverfahren auf sich? Welche Vorteile haben sie? Wie werden sich die Insolvenzen entwickeln? Welche Ansprüche haben Arbeitnehmer bei Insolvenz? Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.

Nehmen Insolvenzen in Hamburg zu?

Während sich im ersten Halbjahr noch kein eindeutiger Trend abzeichnete, hat sich die Lage jetzt zugespitzt. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) meldet für September einen Anstieg um 34 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat. Insgesamt wurden 762 Firmeninsolvenzen gezählt. „Die Zahl der Insolvenzen wird in den nächsten Monaten weiter ansteigen“, sagt Steffen Müller vom IWH. Verantwortlich dafür seien neben der sich stark eintrübenden konjunkturellen Lage in erster Linie stark steigende Preise bei wichtigen Produktionsfaktoren. Neben den Kosten für Energie stiegen auch Löhne und Kreditzinsen. „Für das Gesamtjahr 2022 ist ein Zuwachs zwischen zwölf und 14 Prozent zu erwarten, da die Insolvenzzahlen in der ersten Jahreshälfte leicht unter dem Vorjahresniveau lagen“, sagt Müller. Diese Prognose deckt sich mit der zu erwartenden Entwicklung in Hamburg. 550 Firmeninsolvenzen 2022 – plus 12,5 Prozent.

Zeigt sich diese Entwicklung schon am Arbeitsmarkt?

Die Arbeitsagentur würde steigende Insolvenzen zunächst an den Antragszahlen für das Insolvenzgeld spüren. Im bisherigen Jahresverlauf (Zahlen liegen nur bis August vor) wurde der niedrigste Wert bei diesen Anträgen seit 2008 registriert (siehe Grafik). „Trotz der aktuellen schwierigen Wirtschaftslage stellen wir keinen Anstieg bei den eingehenden Anträgen auf Insolvenzgeld fest“, sagt Sönke Fock, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit.

Was ist Insolvenzgeld?

Kann der Arbeitgeber die Gehälter seiner Mitarbeiter nicht mehr oder nur zum Teil zahlen, haben Beschäftigte Anspruch auf Insolvenzgeld. Es muss bei der Agentur für Arbeit innerhalb von zwei Monaten nach Verfahrenseröffnung beantragt werden.

Wie hoch ist das Insolvenzgeld?

Insolvenzgeld ist eine einmalige Zahlung, die rückwirkend ausgezahlt wird. Es wird als Ersatz für den Lohn gezahlt, der für die letzten drei Monate vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens aussteht. Das Insolvenzgeld wird in der Regel in Höhe des Nettolohns ausgezahlt. Es umfasst das Festgehalt und gegebenenfalls auch weitere Gehalts- oder Lohnanteile (Provisionen, Überstundenvergütungen, Weihnachtsgeld). Für Besserverdienende gilt die Beitragsbemessungsgrenze, die im Westen bei 7050 Euro im Monat liegt. Sollte das Unternehmen aufgrund der Insolvenz nicht in der Lage sein, Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen, übernimmt dies die Agentur für Arbeit. In diesem Jahr zahlte die Arbeitsagentur Hamburg bisher 12,4 Millionen Euro an Insolvenzgeld aus.

Wann muss ein Unternehmen Insolvenz beantragen?

Insolvenzgründe sind Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit. Die Hürde dafür ist niedrig. Wenn ein Unternehmen zehn Prozent seiner fälligen Forderungen in absehbarer Zeit nicht wird begleichen können, spricht man von Zahlungsunfähigkeit. Überschuldung ist erreicht, wenn das Vermögen nicht mehr ausreicht, um bestehende Verbindlichkeiten zu decken. Bereits bei einer negativen Prognose muss ein Insolvenzantrag gestellt werden. Nur während der Corona-Pandemie gab es Ausnahmen von diesen Regelungen.

Was ist ein Schutzschirmverfahren?

Es ist ein spezielles Verfahren des Insolvenzrechts, das eine Fortführung des Unternehmens, eine eigenständige Sanierung und gleichzeitig den Schutz vor Vollstreckungen für den Schuldner ermöglichen soll. Gläubiger können mit Eröffnung des Schutzschirmverfahrens für drei Monate keine Forderungen beim Schuldner vollstrecken. Zudem kann die Geschäftsführung sie am Ende zu einem Schuldenschnitt zwingen. „Die Geschäftsführung behält die Verfügungs­gewalt, da das Gericht lediglich einen Sachwalter als Aufseher statt einen Insolvenzverwalter bestellt“, sagt Frank Schlein, Geschäftsführer von Crif.

Geschäftsführerinnen Insa Dehne (l.) und Sonja Schelbach in ihrem Laden Stückgut in Ottensen. Der Unverpackt-Pionier musste Insolvenz anmelden.
Geschäftsführerinnen Insa Dehne (l.) und Sonja Schelbach in ihrem Laden Stückgut in Ottensen. Der Unverpackt-Pionier musste Insolvenz anmelden. © Thorsten Ahlf

Was sind die Voraussetzungen?

„Um ein Schutzschirmverfahren in Anspruch zu nehmen, darf keine Zahlungsunfähigkeit vorliegen“, sagt Schlein. Aber die Zahlungsunfähigkeit muss drohen, um sich nicht ohne Grund bestehenden Forderungen zu entziehen. Denn der Schutzschirm ermöglicht den sofortigen Ausstieg aus unwirtschaftlichen Miet-, Pacht- oder Leasingverträgen. Innerhalb von drei Monaten muss das Unternehmen einen Insolvenzplan vorlegen.

Welche Vorteile bietet das Verfahren gegenüber einer normalen Insolvenz?

„Ein Schutzschirmverfahren muss nicht öffentlich bekannt gemacht werden und beinhaltet nicht das Wort ,Insolvenz‘“, sagt Schlein. Schlechte Presse oder Maßnahmen von Kunden oder Lieferanten könnten so vermieden werden. Der größte Vorteil ist, dass die Geschäftsführung die Verfügungsgewalt behält. „Schutzschirmverfahren sind mit einer Dauer von drei bis zwölf Monaten deutlich schneller vollzogen als eine Regelinsolvenz, die drei bis sechs Jahre dauern kann“, sagt Schlein. Allerdings ist das Verfahren mit hohen Kosten verbunden, weil es komplexer ist als ein normales Insolvenzverfahren. „Dieser Umstand setzt eine gewisse Unternehmensgröße für das Schutzschirmverfahren voraus“, sagt Schlein.

Wie läuft eine Insolvenz in Eigenverwaltung ab?

Es gibt die Eigenverwaltung mit und ohne Schutzschirm. Beide Sanierungsmethoden ermöglichen größtmögliche Freiheit. In beiden Fällen kann die Geschäftsführung den Sachwalter frei bestimmen und muss nicht einen vom Gericht ausgewählten Insolvenzverwalter akzeptieren. Der Unterschied liegt in der Liquidität des Unternehmens. Eine Insolvenz in Eigenverwaltung ist auch möglich, wenn die Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten ist – beim Schutzschirmverfahren darf diese noch nicht eingetreten sein. Beide Verfahren haben ein besseres Image als die Regelinsolvenz. Eigenverwaltung steht in der Regel für den Erhalt der Firma, Regelinsolvenz für Verkauf oder Liquidation.

Erleichtert das Schutzschirmverfahren den Erhalt des Unternehmens?

Das treffe auf Eigenverwaltung und Schutzschirmverfahren zu, sagt Schlein. „Zum einen ist der Insolvenzantrag in der Regel besser vorbereitet und erfolgt auch früher“, sagt Schlein. „Mit beiden Verfahren wurden vor zehn Jahren Werkzeuge geschaffen, die eine schuldnerverantwortliche Sanierung ermöglichen und Schuldner motivieren, sich mit der eigenen Krise früher auseinanderzusetzen“, so Schlein. Aber eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Der Pralinenhersteller Leysieffer war erst im Frühjahr 2020 nach einem Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung neu gestartet. Am Ende bewahrte es das Unternehmen nicht vor der Regelinsolvenz. Jetzt wurde die Firma aus Osnabrück und alle 180 Mitarbeiter von einem Logistikdienstleister übernommen. Auch die Steakhauskette Maredo schlüpfte unter den Schutzschirm und landete schließlich doch im Regelinsolvenzverfah­ren.

Wie läuft die Regelinsolvenz ab?

Die Regelinsolvenz ist der Normalfall, wenn eine Firma in Schieflage gerät. Dann bestimmt der Insolvenzverwalter die Geschicke. Nach dem Insolvenzantrag befindet sich das Unternehmen zunächst im vorläufigen Insolvenzverfahren, das in der Regel etwa drei Monate dauert. In dieser Zeit ermittelt der vorläufige Insolvenz­verwalter im Auftrag des Gerichts, ob das Unternehmen die Voraussetzungen für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt. Die Regelinsolvenz kann sich über Jahre hinziehen. Vielfach bleibt den Verwaltern auch nur die Wahl, die Firma zu liquidieren. „Von allen Unternehmens­insolvenzen sind lediglich 3,5 Prozent der Verfahren Eigenverwaltungen mit und ohne Schutzschirm“, sagt Schlein.