Norderstedt. Immer weniger Kunden im Unverpackt-Laden. Die Inhaberinnen von „Die Waagschale“ müssen in zwei Monaten Bilanz ziehen.

Norderstedts erster Unverpackt-Laden „Die Waagschale“ hat an diesem Morgen geschlossen. Wie jetzt immer montags. Es war eine der ersten Maßnahmen, die Kathrin Kahnert und Nadia Mispelbaum ergriffen haben, nachdem die Zahl der Kunden vor einigen Monaten eingebrochen ist.

Weil Montag der umsatzschwächste Tag ist, bleibt „Die Waagschale“ seit Juni an diesem Tag zu. Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert brauchen die Zeit, um neue Ideen zu planen und umzusetzen. Denn die Lage ist ernst. Norderstedts erster Unverpackt-Laden an der Ulzburger Straße kämpft 15 Monate nach der Eröffnung weiter um die Existenz.

Norderstedt: Unverpackt-Laden bangt um Existenz – Frist gesetzt

Aus diesem Grund hatten sich die beiden Gründerinnen im Juni mit einem dramatischen Appell im Abendblatt an ihre Kunden gewandt und berichtet, dass ihrem Geschäft die Schließung drohe. „Wenn die Zahl der Kunden nicht bald deutlich ansteigt, müssen wir Konsequenzen ziehen. Dann kann es sein, dass wir im Herbst schließen müssen.“ so das Fazit.

Denn seit März haben sie etwa ein Drittel weniger Kunden als sonst – dabei müssten die Zahlen laut Businessplan eigentlich steigen. Sie hatten kalkuliert, dass sie mindestens 75 Kunden am Tag haben – jetzt sind es manchmal nur 20 bis 25.

Die Inhaberinnen müssen in zwei Monaten Bilanz ziehen

Nachdem die beiden Unternehmerinnen auf ihre prekäre Lage aufmerksam gemacht hatten, liefen die Geschäfte im Juni deutlich besser. Inhaber und Mitarbeiter konnten aufatmen. „Es war, als ob jemand den Schalter umgelegt hat“, sagt Nadia Mispelbaum und erinnert sich daran, wie euphorisch sie waren.

„Plötzlich waren die Kunden wieder da – alte Stammkunden, aber auch viele Neue“, sagt Kathrin Kahnert und erzählt von den vielen positiven Rückmeldungen der Menschen. Es habe so gut getan zu sehen, dass „Die Waagschale“ den Leuten nicht egal sei und sie die drohende Schließung verhindern wollten.

Es schien die Kehrtwende zu sein, die Rettung.

Kathrin Kahnert (l.) und Nadia Mispelbaum bitten die Kunden um Hilfe.
Kathrin Kahnert (l.) und Nadia Mispelbaum bitten die Kunden um Hilfe. © Miriam Opresnik

Dramatischer Appell: „Die Kunden haben es in der Hand“.

Doch dann begannen die Sommerferien und die Zahlen brachen wieder ein. Auch wenn sie einkalkuliert hatten, dass es in der Urlaubszeit schlechter läuft – der Einbruch hat sie dennoch sehr ernüchtert.

„Natürlich fahren viele in der Zeit weg“, sagt Nadia Mispelbaum. Sie selbst hätten die Zeit ebenfalls zum Auftanken gebraucht. Doch die Entspannung hat nicht lange gehalten. Denn die Schulferien sind um – und nun beginnt die Urlaubszeit für die Kunden, die keine schulpflichtigen Kinder haben.

Nadia Mispelbaum und Kathrin Kahnert hoffen trotzdem, dass sich die tägliche Kundenanzahl nun wieder stabilisiert. Denn in etwa sieben Wochen sind schließlich schon wieder Herbstferien – und viele Kunden im Urlaub.

Mit Veranstaltungen sollen neue Kunden gewonnen werden

Sie arbeiten mit Hochdruck an neuen Ideen, neuen Möglichkeiten, Kunden zu gewinnen. In den vergangenen Wochen haben sie im Laden Veranstaltungen organisiert, es gab ein Klangschalenkonzert und einen Abend mit einer Ernährungsberaterin. Diesen Kurs wollen die beiden weiterfahren, weitere Veranstaltungen sind geplant. Zudem denken sie darüber nach, Künstlern aus der Umgebung die Möglichkeit zu geben, ihre Produkte zu präsentieren.

Sie tun alles, um „Die Waagschale“ zu retten. „Aufgeben liegt keiner von uns im Blut“, sagt Kathrin Kahnert. Auch wenn es da diese Tage gibt, an denen es ihnen schwer fällt, positiv zu bleiben. „Wir stecken auf keinen Fall den Kopf in den Sand! Da sind sich die beiden einig. „Der Laden muss bestehen blieben, er muss einfach.“

Nach einem Hoch im Juni kamen die Sommerferien – und Umsatzeinbrüche

Auch wenn die Stimmung an diesem Morgen etwas gedrückt ist, für das Foto lächeln die beiden. Sie möchten sich bei ihren Kunden für die Unterstützung bedanken – und die Menschen eindringlich bitten, so weiterzumachen. „Die Kunden haben es in der Hand, wie es weitergeht.

Bis Ende Oktober wollen sie noch einmal abwarten, dann werden sie Bilanz ziehen – und eine Entscheidung treffen.

Kathrin Kahnert (links) und Nadia Mispelbaum kurz vor der Eröffnung von
Kathrin Kahnert (links) und Nadia Mispelbaum kurz vor der Eröffnung von "Die Waagschale" an der Ulzburger Straße im vergangenen Jahr. Muss der Laden jetzt wieder schließen? © Miriam Opresnik

Der stationäre Einzelhandel, vor allem kleine Fachgeschäfte, stecken tief in der Krise

Die Gründe für die Umsatzeinbrüche sind vielfältig: der Angriffskrieg auf die Ukraine, die andauernde Corona-Pandemie, die Energiekrise und vor allem die steigenden Preise haben das Konsumverhalten der Menschen verändert. Der stationäre Einzelhandel, vor allem kleinere Fachgeschäfte, stecken tief in der Krise.

Sie wissen, wie es den Kunden geht. Denn sie fühlen sich selbst so. Ohnmächtig, verunsichert. Auch sie haben Respekt vor der nächsten Gas-Abrechnung – im Laden und privat. Eigentlich müssten sie sich selbst mehr Gehalt zahlen, um ihre privaten Ausgaben decken zu können. Denn im Moment kann keine von ihnen von ihrem Lohn leben. Doch mehr ist jetzt einfach nicht drinnen.

Die Inhaberinnen haben schon überlegt, Nebenjobs anzunehmen

Sie haben schon mal drüber nachgedacht, einen Nebenjob anzunehmen. Sonntags irgendwo zu kellnern, um ein zweites Einkommen zu haben. Doch dann hätten sie weniger Zeit für „Die Waagschale“, in die sie all ihre Zeit und Energie stecken möchten.

Sie merken jetzt schon, dass es zu zweit oft eng wird – dass eine von ihnen es alleine kaum schafft, wenn die andere krank ist oder Urlaub hat. Daher beschäftigen sie ein paar Aushilfen. Wie lange sie die Kosten dafür noch tragen können, ist jedoch ungewiss. Denn im Oktober steigt der Mindestlohn auf 12 Euro.

„Natürlich ist es richtig, dass die Menschen mehr verdienen“, sind sie sich sicher. „Aber ohne steigende Kundenzahl könnte es schwierig werden, unsere Mitarbeiter in dem jetzigen Umfang weiter beschäftigen zu können“, sagt Kathrin Kahnert.

Branche in Not: Unverpackt-Pioniere in Hamburg sind bereits insolvent

In den letzten Woche sind sie von Kunden immer wieder gefragt worden, wann sie schließen werden. Sie mussten viel erklären, aufklären. Beruhigen. Ihre Botschaft: Soweit ist es ja noch lange nicht. Die Lage ist ernst, aber nicht aussichtslos!

Um auf ihre bedrohliche Lage aufmerksam zu machen, hatten sich die Gründerinnen vor drei Monaten mit den Hamburger Unverpackt Läden zusammengetan und über die sozialen Netzwerke an ihre Kunden gewand. „Wir wollen aber unbedingt weiter machen und wollen zusammen mit Euch die Welt ein bisschen plastikfreier gestalten. Aber das geht nur mit Euch! OHNE EUCH SCHAFFEN WIR DAS NICHT! Wir brauchen Euch. JETZT!“, steht in dem dramatischen Appell der Aktion #supportyourlocalunverpacktladen.

Für viele Läden war es der letzte Rettungsversucht, doch selbst dieser hat bei einigen nicht gereicht. Sogar Hamburgs Unverpackt-Pioniere konnten die Krise nicht abwenden: Die Stückgut-Läden in Ottensen und auf St. Paul sind insolvent. Der Geschäftsbetrieb in beiden Ladengeschäften soll vorerst weiter laufen.

Die Krise betrifft die gesamte Branche. In Berlin hat Ende Juni Original Unverpackt, auch ein Vorreiter der Zero-Waste-Bewegung, Insolvenzantrag gestellt. In Hamburg haben Händler in Bramfeld und Niendorf ihre Geschäfte geschlossen. Andere Läden leiden unter massivem Umsatzrückgängen.

Sie haben für den Laden gebrannt. Jetzt sind sie ausgebrannt

Als sie vor mehr als einem Jahr nach einem passenden Namen suchten, haben sie sich bewusst für „die Waagschale“ entschieden. Für sie war es mehr als ein Symbol für die Waren, die bei ihnen abgewogen werden. Es war Teil ihrer Lebenseinstellung, ihrer Philosophie. Dass die Umwelt nicht noch mehr aus dem Gleichgewicht geraten darf. Dafür haben sie im vergangenen Jahr gelebt.

Der Laden war für sie immer mehr als ein Einzelhandelsgeschäft, mehr als eine Marktlücke. Mehr als ein Job und Geldverdienen. Es war ihre Art, einen Beitrag zu leisten. Etwas zu bewegen und die Welt ein bisschen besser zu machen.

Die Krise trifft alle Läden – unabhängig von ihrem Standort

Sie haben immer gesagt, dass sie für ihre Mission brennen. Jetzt haben sie das Gefühl, ausgebrannt zu sein. Es frustriert sie, keinen Einfluss auf die Ereignisse zu haben, nichts tun zu können. „Keiner von uns kann etwas an dem Krieg oder der Inflation ändern“, sagt Nadia Mispelbaum. Manchmal hat sie das Gefühl, die Leichtigkeit verloren zu haben.

In den vergangenen Monaten haben sie immer wieder gehört, dass sie den falschen Standort ausgewählt haben, dass der Laden woanders besser laufen würde. Das Thema zermürbt sie. Sie sind müde darüber zu diskutieren, ob es am Schmuggelstieg oder in Norderstedt Mitte besser gelaufen wäre. „Die Krise trifft alle Läden, egal ob sie in Ottensen oder Volksdorf sind“, so ihr Statement.

Einkaufen Norderstedt: Ist der Unverpackt-Laden „Die Waagschale“ noch zu retten?

Die Menschen in der Region hätten ihnen oft genug gezeigt, dass sie bereit für Zero Waste seien. Dass Norderstedt ein guter Standort sei und dass sie mit ihrem Traum vom unverpackten Einkaufen nicht falsch gelegen haben. „Wir glauben an das Potenzial von Norderstedt“, sagen die Gründerinnen. „Doch wir schaffen das nicht alleine.“ Wie es weitergeht, wenn sie schließen müssen? Darauf gibt es keine Antwort.