Zurück auf Utøya wagt die Jugend der norwegischen Arbeiterpartei jetzt einen vorsichtigen Schritt in Richtung Normalität.
Sundvollen. Auf den Klippen am Strand sitzen sie in der Sonne, andere stehen knietief im Wasser. Ein Mädchen deutet einen Kopfsprung an – sie zeigt ihren Angehörigen und Freunden, wie sie vor vier Wochen vor einem Massenmörder flüchtete. Die Jugendlichen, die an diesem strahlenden Sonnabend auf die norwegische Fjordinsel Utøya zurückkehren, haben ein Massaker überlebt – 69 ihrer Freunde starben, eiskalt erschossen von einem rechtsradikalen Attentäter – weil sie sich politisch engagierten. Und doch standen einige der Überlebenden in den vergangenen Tagen schon wieder am Wahlkampfstand. „Jetzt erst recht“, scheint die Losung.
Die Bootsfahrt zur Insel werde das schwierigste für viele Jugendliche, erklärt der Chef der staatlichen Gesundheitsbehörde, Bjørn-Inge Larsen. Aber die sollten „erleben, dass Utøya kein gefährlicher Ort ist“. Am Vortag waren bereits Familien der Toten auf der Ferieninsel der Arbeiterpartei-Jugend. An ihren Blumen, Kerzen und Nachrichten gehen die Überlebenden nun vorbei. Es soll auch gegen die Schuldgefühle helfen, die viele von ihnen spüren – weil sie es schafften, ihre Freunde aber nicht.
„Eigentlich wollte ich nicht rüberfahren“, sagt Jorid Nordmelan. „Ich hatte beschlossen, nie wieder zurückzukommen.“ Dann setzte sich das Mädchen mit dem gelben Rock doch in eines der Boote. „Jetzt bin ich froh dass ich es gemacht habe“, sagt sie hinterher. Es habe gut getan, die Blumen an den Leichenfundorten zu sehen. Zugleich habe jeder Respekt für den anderen gezeigt. „Wir haben hauptsächlich mit der einen Person gesprochen, die wir mitbringen durften.“ Die ein oder andere Umarmung habe es natürlich trotzdem gegeben.
Die Rückkehr auf die Insel könne für den Trauerprozess extrem wichtig, aber auch belastend sein, erklärt die Jugendpsychiaterin Grete Dyb. Sie hat Hinterbliebene bei ihrem Besuch auf der Insel betreut. „Wer Zweifel hat herzukommen, sollte es nicht tun“, rät sie. Später werde es weitere Gelegenheiten geben. Ob die Rückkehr an den Ort, wo sie um ihr Leben bangten, den Überlebenden wehtue oder helfe, sei schwer einzuschätzen. „Wir hoffen, es hilft langfristig.“
Nicht die Rückkehr zur Insel, sondern die Rückkehr ins Leben dürfte für die meisten Jugendlichen die größte Herausforderung sein. „Sie müssen wieder in die Schule, treffen Freunde, die dieses Leid nicht mit ihnen geteilt haben, es nicht verstehen“, sagt Dyb. Umso wichtiger sei es nun, noch einmal mit Gleichgesinnten zu sprechen.
Viele der Überlebenden kämpfen noch mit dem Alltag. „Ich lobe mich selbst, wenn ich etwas Normales getan habe“, sagt die 18-jährige Ingrid Endrerud in der Zeitung „Dagsavisen“. Sie hat, wie viele ihrer Freunde, das weiß-rote Armband mit der „Utøya“-Aufschrift nie abgenommen. Auch den Umzug nach Frankreich hat sie verschoben – bis nach dem Wahlkampf. „Es ist gut etwas zu tun zu haben“, sagt sie. Dass sie ihr politisches Engagement nicht aufgeben, ist für viele Überlebende auch eine Art Therapie.
Auch Prableen Kaur ist bereits wieder voll im Wahlkampf engagiert. „Unsere Antwort muss eine noch stärkere Demokratie sein. Darum hoffen wir, dass die Leute ihr Stimmrecht gebrauchen“, schreibt das Mädchen mit dem markanten Sikh-Turban in ihrem Blog. „Offenheit soll unsere Gesellschaft weiter kennzeichnen.“ Doch dieser Wahlkampf soll anders werden. „Wir hoffen, dass die Zeit bis zur Wahl von Würde geprägt ist. Dass wir ohne Vorurteile Vielfalt diskutieren können.“
Es sei gut, dass sich viele Jugendliche weiter engagierten, sagt auch Dyb. Doch sie warnt: „Sie müssen aufpassen, dass sie sich nicht verausgaben, nicht zu viel von sich verlangen. Sie haben gerade nicht so viel Kraft wie sonst.“ (abendblatt.de/dpa)