Drei Stunden nach dem Start lief die “Costa Concordia“ auf Grund. Passagiere berichten von einem heillosen Durcheinander an Bord.
Ein erster starker Ruck geht durch die " Costa Concordia ". Fliegende Koffer in den Kabinen. Ein zweiter Ruck, verbunden mit Stromausfall. Dann eine schnell wachsende Schieflage, rutschende Gegenstände in den Kabinen, umkippende Teller, Gläser, Vasen im Restaurant, an den festlich gedeckten Tafeln beim Captain's Dinner. Und dann die Durchsage: "Es gibt einen technischen Defekt. Bleiben Sie ruhig und verlassen Sie nicht Ihre Kabine."
Ziemlich genau so muss es abgelaufen sein, gegen 21.45 Uhr in der Nacht zum Sonnabend auf der " Costa Concordia ", in der Hafenbucht des Inselörtchens Giglio Porto, 15 Kilometer vom toskanischen Festland entfernt. Rund 4200 Menschen waren an Bord. Die "Concordia", das war ein hochmoderner Cruiseliner, der Stolz des genuesischen Konzerns Costa Crociere, getauft 2006, ausgestattet mit neuestem Navigationssystem, Formel-1-Simulator, Theater, Kasino sowie dem weltgrößten Bord-Wellness-Center. "Costa ist, wenn jeder Tag mit einer neuen Entdeckung beginnt" heißt es in einem aktuellen Werbeslogan. Was die Geretteten jener Nacht berichten, erinnert eher an Szenen von der "Titanic".
Drei Stunden erst war das 291 Meter lange Schiff nach dem Start im Hafen von Civitavecchia unterwegs, als es einen Felsen rammte und ein mehr als 50 Meter langes Loch im Rumpf davontrug. "Wir sahen uns gerade eine Zaubershow an, als der Zauberer plötzlich verschwand", berichtet die US-Amerikanerin Laurie Willits, die mit Ehemann Alan ihren 30. Hochzeitstag an Bord feierte. Als sich das Schiff immer stärker neigte, sei er fast vom Stuhl gefallen, ergänzt Alan. Er und seine Frau hätten direkt neben dem Lichttechniker gesessen, sagt Mike van Dijk aus Südafrika, der auch im Saal saß. "Als ich merkte, dass er ganz besorgt war, wusste ich, wir müssen sofort hier raus."
Was dann passierte, ist mit dem Wort "chaotisch" noch vorsichtig umschrieben. Auf im Internet veröffentlichten Videos ist zu sehen, wie Menschen sich panisch in Schiffsausgängen quetschen, einige schreien, eine Frau ruft ununterbrochen "San Benedetto, San Benedetto", heiliger Benedikt, hilf uns! "Es war ein einziges ,Rette sich wer kann'", berichtet Gilbert, 66, aus Frankreich. Georgia Ananias, 61, rekapituliert unter Tränen, wie ein argentinischer Vater ihr seine drei Jahre alte Tochter in die Arme drückte, als er sein Gleichgewicht nicht mehr halten konnte. "Ich nahm sie. Aber dann wurde ich nach unten gedrückt. Ich wollte nicht, dass das Baby die Treppe hinunterfällt. Ich gab es ihm zurück. Ich dachte, das sei das Ende und er sollte bei seiner Tochter sein." Anna Veroni erzählt, wie sie verzweifelt versuchte, ihren 15 Monate alten Sohn in einem der Rettungsboote unterzubringen. "Alle sagten, wir sollten zum nächsten Boot gehen." Nach stundenlangem Warten wurde sie samt ihrer Familie gerettet. "Es war wie ,Titanic', sagt Veroni. "Genau so."
Dass - anders als 1912 vor Neufundland - bei der "Concordia"-Havarie die meisten Passagiere gerettet werden konnten, ist vor allem dem Umstand zu verdanken, dass das Schiff in unmittelbarer Hafennähe auf Grund lief. Das Rettungsverhalten der Besatzung war dagegen ersten Berichten zufolge erschreckend unzureichend. Christine Hammer, 65, aus Bonn berichtet, nach dem Stromausfall sei zunächst verbreitet worden, "dass keine Gefahr bestehe. Anweisungen, wie das Schiff zu verlassen sei, gab es nicht - eine Übung war erst für diesen Samstag geplant." Später seien die Passagiere aufgefordert worden, die Rettungsboote aufzusuchen. Die Boote hätten aber wegen der Schräglage nicht zu Wasser gelassen werden können. Zu Hilfe eilende Boote aus der Region retteten schließlich das Gros der Passagiere. "Es war schrecklich", sagt Hammer.
Oliver Tank, 24, aus Solingen war mit seiner Freundin Natascha im Speisesaal, als das Licht ausging und die beiden an Deck hasteten. Sie sahen Lichter an Land und Crewmitglieder, die Rettungsboote klarmachten. Ein Mitglied des Personals habe dort zu ihnen gesagt, sie sollten schlafen gehen, es sei nur ein kleines technisches Problem. Das Schiff sei jedoch immer weiter zur Seite gekippt, Panik habe sich ausgebreitet. "Alles lief durcheinander", sagt Tank, einer von 566 Deutschen an Bord. "Das Schlimmste war die Ungewissheit. Wir saßen eine Stunde vor dem Rettungsboot, bevor es endlich ins Wasser ging." Er habe sogar ins Meer springen wollen, doch seine Freundin habe ihn davon abgehalten. Hunderte andere dagegen schwammen durch das 13 Grad kalte Wasser ans etwa 150 Meter entfernte Ufer, die Küstenwache rettete nach eigenen Angaben rund 150 Menschen aus den Fluten. Ein Franzose, 70, erlitt im Wasser einen Herzinfarkt und starb. Bis Sonntagabend wurden fünf Leichen geborgen, 15 Menschen noch vermisst.
Der Präfekt der Region Grosseto, Giuseppe Linardi, sagte, die Listen der Reederei und die der nach der Rettung registrierten Passagiere und Besatzungsmitglieder müssten noch verglichen werden. Das könne die Differenz zwischen den 4232 Menschen an Bord und den nach dem Schiffbruch registrierten 4196 ausmachen. Passagiere aus der Toskana und Latium hätten sich möglicherweise sofort auf den Weg nach Hause gemacht. Das Außenministerium in Berlin sprach von "einigen ungeklärten Fällen" aus Deutschland. Dabei könne es sich um Menschen handeln, die kein Telefon hätten oder nach dem Unglück verwirrt seien.
"Unfähigkeit" und "Verharmlosung" sind noch die geringsten Vorwürfe gegen die Crew der "Concordia". Der Kapitän Francesco Schettino, 52, zählte offenbar zu den Ersten, die von Bord gingen - um 0.30 Uhr, als noch viele Passagiere auf der "Concordia" waren, sei er bereits im Hafen eingetroffen. Noch am Sonnabend wurde er wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung, Verursachung eines Schiffbruchs und vorzeitigen Verlassens des Schiffs festgenommen.
Bleibt die Frage, was einen erfahrenen Seemann wie ihn dazu trieb, ein so großes Schiff in so flache Gewässer zu navigieren - noch dazu vor der Insel Giglio, deren Küste für ihren felsigen Untergrund bekannt ist. Schettino, bereits seit elf Jahren Kapitän auf Costa-Schiffen, gab in ersten Vernehmungen an, die "Costa Concordia" sei über einen nicht kartografierten Felsen geschrammt. Anschließend habe er das Schiff möglichst dicht an die Insel manövriert, um die Evakuierung zu erleichtern.
Italienische Medien vermuten dagegen eine weit skandalösere Unglücksursache - die sogenannte Verneigung vor der Küste. Bei dieser neuerdings populären Praxis drehen die Luxusliner bei, lassen Nebelhörner ertönen und bieten Sichtkontakt zwischen Passagieren an Bord und Menschen an Land. Touristen wie Einheimische seien laut "Giglio News" begeistert von dem Spektakel gewesen, das zur "unverzichtbaren Tradition" geworden sei.
Den ganzen Sonntag über suchten Rettungstaucher fieberhaft nach Überlebenden. Wie viele Menschen sich noch im Schiffsrumpf befanden, war zunächst nicht genau zu klären.
Während die meisten deutschen Passagiere am Sonnabendabend über den Flughafen München nach Hause reisen konnten, wartet ein Großteil der Geretteten noch immer im eilends eingerichteten Notlager im Hafenort Porto Santo Stefano sowie im Hilton-Hotel am Flughafen Rom-Fiumicino auf seine Heimreise. Viele Passagiere haben all ihre Habseligkeiten zurückgelassen.
"Mein vierwöchiges Mehrländervisum für den Schengen-Raum liegt am Meeresboden", sagt Elena Kilimichenko aus der Ukraine. Nun sitze sie hier fest. Ohne Papiere, ohne Geld, ohne Gepäck. Auch Melissa Goduti aus den USA ließ Handy, Pass und Speicherkarten ihrer Kamera auf der "Concordia" zurück. Eines wisse sie schon jetzt: "Ich werde in meinem Leben nie wieder ein Schiff betreten."