In Leogane muss das Epizentrum der Katastrophe von Haiti gewesen sein. Jetzt sind Helfer auch dort vor Ort und verteilen Lebensmittel.
Leogane. Seit Stunden warten viele Hunderte von Frauen auf die rettenden Hilfspakete aus Deutschland. Bei weit über 30 Grad stehen sie dicht gedrängt in der Trümmern der Stadt Leogane und singen. Hier muss bis zum Erdbeben das Zentrum der 120.000-Einwohner-Stadt gewesen sein. Die Reste der Kirche Sainte Rose de Lima ragen aus den Ruinen hervor, aber wohl nicht mehr lange: Das noch von Arkaden getragene Dach des Kirchenschiffes dürfte auch bald auf dem Boden liegen.
Plötzlich schlägt der Gesang der Frauen in Gekreische um. Es gibt Gedränge. Von der ehemaligen Hauptstraße, der Avenue Grande, biegt ein großer Sattelschlepper zum Vorplatz der Kirche ab. Ein roter Container mit der Aufschrift „Hamburg Süd“ naht. Es beginnt die erste Lebensmittelverteilung in dieser Stadt rund 40 Kilometer westlich der haitianischen Hauptstadt, die nach Einschätzung der Experten zu 90 Prozent zerstört ist. Nach Leogane sind bisher Ärzte aus Japan, Kanada und aus dem deutschen Bayern vorgedrungen.
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„Wir wollen in Leogane ein zweites Standbein unserer Hilfe für Haiti installieren“, erklärt Volker Pellet, Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Port-au-Prince. Er führt den Transport verschiedener Hilfsorganisationen an, die an diesem Tag gemeinsam in Leogan eintreffen. Das THW ist dabei, die GTZ, Caritas, Humedica, die Johanniter, Malteser und noch mehr. Die Verteilung von Lebensmitteln in einer solchen Situation ist ein Alptraum. Die Organisationen haben Angst, dass es unter den Hungernden zu Gewalt und zu Ausschreitungen kommen kann. In Port-au-Prince setzten Polizeikräfte am Sonnabend Warnschüsse und Tränengas ein, um den Ansturm in Schach zu halten.
Etwa 100 Soldaten aus Kanada und Sri Lanka sichern das Gelände ab. Der Lkw wird rückwärts in eine schmale Gasse neben der Kirche manövriert, die zuvor vom meterhohem Schutt freigeräumt wurde.Der Zugang wird von den Kanadiern versperrt, die sich mit aller Kraft gegen die andrängenden Frauen stemmen. Es soll schnell gehen, um den Druck nicht allzu groß werden und die Emotionen nicht überkochen zu lassen. Doch dann fehlt der Schlüssel für den Container und es vergehen 45 Minuten, bis das stabile Vorhängeschloss aufgebrochen wird.
Auf dem Platz vor der Absperrung schwillt der Lärm an, das Gedränge heftiger. Die Menschenmenge drängt gegen die kanadische Bastion. Die hält stand, obschon nun auch von rechts kräftige Männer gegen sie vorgehen. Die sind auch hungrig und wedeln mit Plastiktüten. Weiter hinten, wo die Obdachlosen aus Holz- und Blechteilen ihre erbärmlichen Hütten zusammengezimmert haben, haben sich Hunderte von Frauen und Mädchen friedlich angestellt.
2000 Lebensmittelpakete sollen verteilt werden, mit Bohnen, Reis, Salz und Öl darin. In dem Gewühl der Frauen ragt ein kräftiger Mann in einem gelben Hemd heraus. Schwitzend trägt er eine kleine, alte Frau und bugsiert sie nach vorne. Nach einer halben Stunde ist er bei den Kanadiern, wo er sie abliefert. Die Frau bricht jammernd hinter der Linie zusammen. Ein Mitarbeiter der Pfarrei Saint Rose de Lima führt sie später zum hinteren Teil des Lastwagens, wo die Verteilung in vollem Gang ist.
Nach fast zwei Stunden wird die Aktion beendet. Die Organisatoren trauen sich nicht, einen weiteren, aber viel kleineren Transporter vorfahren zu lassen, um noch einmal zu verteilen. Die kanadischen Soldaten sind geschafft, die Menge der Hungernden ist nicht wesentlich kleiner geworden. Doch als der große Laster den Motor anwirft und langsam anfährt, löst sich die Menge rasch und friedlich auf. Es gibt nur vereinzelt Unmutsäußerungen.
Auf der Ladefläche sind noch zwei Paletten mit Lebensmitteln geblieben. Sie werden in ein Flüchtlingscamp vor den Toren der Stadt gebracht. Dort haben sich Notärzteteams aus Kuba und aus Deutschland mit kleinen Feldlazaretten angesiedelt, um außerhalb von Port-au-Prince medizinische Hilfe zu leisten. Dass auch dieses in Haiti eine besondere Herausforderung ist, wird den Vertretern der Hilfsorganisationen schnell klar. „Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass wir hier zunächst vor allem amputieren mussten“, berichtet der Arzt Thomas Geiner aus Moosburg.
Eine Amputationssäge hatten die freiwilligen Ärzte der Organisation Navis vom Münchner Flughafen nicht im Gepäck. „Wir amputieren mit dem Werkzeug-Messer – auch unter freiem Himmel.“ Auch die besser ausgerüsteten Kubaner kämpfen mit ungeahnten Problemen. Sie trafen als erste in dem Ort unmittelbar beim Epizentrum des Erdbebens ein. „Am ersten Tag haben wir 17 Amputationen gemacht, sagt Alfredo Taset, Arzt aus dem Osten Kubas. „Jetzt werden es weniger.“ Fachleute schätzen, dass noch viele verletzte Haitianer wegen mangelnder Nachbehandlung an Infektionen sterben werden.