Es sind nicht nur die Bilder vom Leid anderer, die uns zum Spenden bewegen. Wir verfügen auch über einen Urtrieb, helfen zu wollen und nach Gerechtigkeit zu streben. Irene Jung und Anne Dewitz über ein Phänomen, das dank der Globalisierung auch seine segensreiche Wirkung global entfalten kann.
Was ein Tsunami ist, hatte kaum jemand in Europa gewusst. Plötzlich tauchten diese verwackelten Videofilmchen im Internet auf, von Thailand-Touristen am Strand oder auf dem Hotelbalkon gedreht. Zum Teil mit hörbaren Schreckensrufen, als die Welle kam, als binnen Sekunden klar wurde, welch ungeheure Verwüstung da anrollte.
Wir, die Daheimgebliebenen, konnten die Entstehung der Katastrophe am 26. Dezember 2004 mit ansehen. Der Mensch ist ein visuelles Wesen. Deshalb waren es nicht zuletzt diese Filme, die in Deutschland eine noch nie da gewesene Spendenwelle auslösten. Der größte Teil der (geschätzt) 670 Millionen Euro für Tsunami-Opfer erreichte die Hilfsorganisationen gleich in den ersten Wochen nach der Katastrophe.
Das Erdbeben auf Haiti könnte jetzt den zweiten Platz in der Spendenbilanz einnehmen, glauben Fundraising-Experten. Schon in der Woche nach dem Beben kamen zehn Millionen Euro in Deutschland durch Privatspenden auf den Weg, damit die Katastrophenhilfe beginnen konnte. Allein die Sendung "Wir wollen helfen - ein Herz für Kinder" von "Bild" und ZDF erbrachte 22,555 Millionen Euro. Die Niederländer waren in der TV-Benefizsendung "Nederland Helpt Haiti" noch spendabler und brachten es auf mehr als 41 Millionen Euro, die von ihrer Regierung am selben Abend auf über 83 Millionen Euro verdoppelt wurden.
Das sind erstaunliche Leistungen, zumal in einer Wirtschaftskrise. "Martin Luther hat gefragt, ob es einen gnädigen Gott gibt. Wir haben heute eine gnädige Menschheit", sagt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, mit Stolz. "Die spontane Entscheidung, Menschen auf der anderen Seite der Welt auch mit größeren Summen zu helfen, kommt freiwillig und zuverlässig. Man kann sich auf unsere Bevölkerung verlassen."
Die Globalisierung, über die sonst ständig geschimpft wird, erweitert unseren Horizont: Sie führt uns die Notlagen der Welt medial direkter vor Augen als je zuvor. Auch in früheren Zeiten gab es Überschwemmungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche mit Hunderttausenden Toten, ohne dass sie ein vergleichbares Mitgefühl geweckt oder zu entsprechenden finanziellen Hilfen animiert hätten.
In zwei Weltkriegen mussten Menschen in vielen Erdteilen die bittere Erfahrung machen, dass Abkommen über die faire Behandlung von Kriegsgefangenen und Soldaten nicht genügten. Sondern dass es auch Abkommen zugunsten der Zivilbevölkerung geben muss, die unter Krieg und Bürgerkrieg, Hunger und Vertreibung leidet wie auch unter Naturkatastrophen. Die Bereitschaft zu internationaler Soforthilfe und zum Spenden wuchs erst, nachdem in Europa Frieden eingekehrt war.
Für Rupert Neudeck ist diese Bewusstwerdung "das größte Fortschrittszeichen nach 1945". "Die Zivilgesellschaft, über die wir so oft reden, hat erkannt: Der Staat allein reicht nicht, es braucht die zusätzliche Kraft von Bürgern, Initiativen, Kirchengemeinden und Stiftungen, um Menschen in Not zu unterstützen. Und das", betont Neudeck, "darf man auch nicht analytisch zerreden oder als 'schlechtes Gewissen' abtun."
Helfen war und ist nicht immer selbstlos. Die ersten Armenhäuser Europas, die im Mittelalter nach den schrecklichen Jahren der Pest in toskanischen Städten eingerichtet wurden, sollten die Armen von der Straße fernhalten - und gleichzeitig als Arbeitshäuser dienen. Dieses Konzept der Stadtväter war ebenso barmherzig wie eigennützig.
Heute weiß man, dass Konzepte von oben - von Wirtschaft, Politik, Behörden - nicht immer die besten sind, schon gar nicht in Entwicklungsländern. Jahrzehntelang hat die Weltbank beispielsweise in Tansania Milliarden Dollar versenkt, dennoch ist Tansania heute das Armenhaus Afrikas. Deshalb setzen viele Menschen mehr Hoffnung auf Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen wie etwa Ärzte ohne Grenzen, Unicef oder die Welthungerhilfe, die praktisch etwas bewirken: Sie betreiben Krankenhäuser und Schulen, richten Notquartiere oder Kraftwerke ein, bilden Jugendliche aus. Je konkreter der Zweck, desto lieber wird gespendet.
Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft lägen in der Natur des Menschen, glaubt Gerhard Wallmeyer, Mitbegründer des Deutschen Fundraising Verbands. "Grundlegend ist, dass Menschen Gemeinschaftstiere sind", sagt er. "Wenn es jemanden in der Gemeinschaft schlecht geht, hilft man sich. Aus dem gemeinschaftlichen Handeln entsteht Solidarität und der Sinn für Gerechtigkeit." Wallmeyer erinnert daran, dass es in den 70er-Jahren auch in Mexiko ein schweres Erdbeben gab. "Da hat Äthiopien Hilfslieferungen geschickt. Umgekehrt hatte Mexiko in den 20er-Jahren Äthiopien bei einer großen Katastrophe geholfen. Das sind Dinge, die der Mensch nicht vergisst."
Natürlich ist der Spendenmarkt heute kein Idyll, sondern ein Spielfeld, auf dem viele Konkurrenten um Anteile kämpfen. Die höchsten Spendenaufkommen wurden beim Kosovo-Konflikt 1999, bei der Elbe-Flut 2002 und beim Tsunami 2004 registriert. Nach dem Tsunami befürchteten viele Hilfsorganisationen, die nicht in der Katastrophenhilfe tätig waren, dass ihnen die Einnahmen wegbrechen würden. Und andere hatten Sorge, dass es 2006 dann eine allgemeine "Spenden-Ermüdung" geben würde. Interessant aber ist, dass die Tsunami-Spenden trotz ihres enormen Volumens größtenteils zusätzlich zu den üblichen Spenden eines "normalen" Jahres gegeben wurden.
Die Katastrophenspenden machen auch nur einen Anteil von 20 Prozent aller Spenden aus, sagt Gerhard Wallmeyer. Er nennt einen Grund: "Bilder von Katastrophen erzeugen eine ganz aktuelle Emotionalität." Wer auf einem Bild ein spindeldürres hungerndes Kind in Somalia sieht oder eine kleine verheulte Rotznase in Nepal, spendet aus einem Gefühl heraus. Selbst wenn der Verstand einwendet, dass somalische Behörden korrupt sind oder in Nepal nur langfristige Unterstützung helfen würde: Mitgefühl ist heute vielleicht unsere stärkste Waffe gegen politische Ohnmacht und Gleichgültigkeit.