An den Übergangsstellen wächst das Chaos. Konvois verstopfen die Straßen und die Benzinpreise steigen. Auch der Flughafen von Santo Domingo ist mittlerweile überlastet.

Jímani/Port-au-Prince. Nur etwa zwei Autostunden ist das Grauen von Jímani entfernt, einer Stadt an der Grenze zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik. Und diese zwei Autostunden haben die Opfer des verheerenden Erdbebens von Port-au-Prince zurückgelegt, um medizinische Hilfe und etwas zu essen zu bekommen. Das städtische Krankenhaus von Jímani ist schon völlig überbelegt und immer noch kommen Verletzte aus Haiti an.

Die elfjährige Tallulah Desir liegt im Flur im Eingangsbereich, um sie herum lauter andere verletzte Haitianer, die apathisch an die Decke schauen und sich von ihren Verwandten Luft zufächeln lassen. Tallulah hat sich das Bein gebrochen, als ihre Schule bei dem Beben zusammenbrach. "Eine Freundin von mir ist gestorben", sagt sie und schaut mit festem Blick geradeaus. Tallulah befreite sich selbst aus den Trümmern und ihre Mutter brachte sie schließlich nach Jímani ins Krankenhaus.

Viele Patienten müssen dort aus Platzmangel auf dem Boden liegen, Schmerzensschreie dringen durch die Flure und das Krankenhauspersonal ist total überlastet. Es ist stickig und es riecht nach Schweiß und Wunden. Vielen Erdbebenopfern, die hier behandelt werden, sind Arme oder Beine amputiert worden. Für die Angehörigen der Patienten wurde bislang keine Unterkunft organisiert. "Sie schlafen irgendwo hier oder auf der Straße", sagt der leitende Arzt Francis Moquete. Immerhin wurden auf einem Gelände gegenüber dem Krankenhaus mobile Küchen aufgebaut, bei denen sich die Angehörigen dreimal am Tag eine kostenlose Mahlzeit abholen können. Das ist mehr, als sie in Haiti je bekommen würden.

Ähnlich wie in Jímani sieht es auch in den anderen Orten entlang der Grenze aus. Alle Krankenhäuser seien überfüllt, teilte die Uno gestern mit. Und es fehlt inzwischen auch dort an Ärzten und Material. Die Uno sorgt sich um die Bevölkerung, denn schnell können sich bei einem solchen Andrang von Tausenden Erdbebenopfern Krankheiten verbreiten.

Die Katastrophe biblischen Ausmaßes hat die Haitianer auch in ihrer Religiosität getroffen: In dem Chaos nach der Katastrophe sieht man einige Menschen mit apokalyptischen Warnungen durch die Hauptstadt ziehen. So steht vor den Trümmern des Nationalpalasts ein Mann und ruft: "Tut Buße! Das Ende der Welt ist nah!" Der Großteil der Haitianer ist katholisch, Protestanten sind in der Minderheit. Und die meisten Christen praktizieren auch Voodoo, das wie der Katholizismus Staatsreligion ist.

Manchmal aber scheint das Leid zu groß, um Trost im Glauben zu finden. "Wie konnte Er uns das antun?", weint Remi Polevard, der seine fünf Kinder unter den Trümmern eines Hauses nahe der Universität begraben weiß. "Es gibt keinen Gott!"

Überall in der zerstörten Hauptstadt versammelten sich verstörte, verzweifelte Menschen zum Gebet. Vor der in Trümmern liegenden Kathedrale predigte Pfarrer Eric Toussaint der Gemeinde, das Beben sei "ein Zeichen Gottes, das uns sagt, wir müssen seine Macht erkennen". Die Haitianer müssten "sich wieder entdecken, um einen neuen Weg zu Gott zu finden".

So mancher Anhänger des Voodoo-Kults betrachtet die Zerstörung wichtiger Machtsymbole dagegen als Strafe für die korrupten Politiker, die zuließen, dass sich die zumeist hellhäutige Führungsschicht bereichert und die schwarze Mehrheit Armut leidet.

In der akuten Not des Landes wird nun Haitis Nachbar, die Dominikanische Republik, immer wichtiger. Das Land übernimmt nicht nur die Versorgung der Opfer, sondern leitete gestern auch eine erste internationale Hilfskonferenz. Die Hauptstadt Santo Domingo ist zu einem Einfallstor für Helfer und Journalisten geworden, nachdem der Flughafen der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince komplett überlastet ist.

Doch auch von Santo Domingo aus ist es schwer, in die Erdbebenregion zu kommen. Mietautos gibt es nicht mehr. Die Straße nach Haiti ist durch die internationalen Hilfskonvois ohnehin schon ständig verstopft. 18 Stunden kann nach Uno-Schätzungen die etwa 300 Kilometer lange Fahrt dauern.

Das Chaos an der Grenze wird dadurch verschärft, dass viele Menschen aus Haiti versuchen, im Nachbarland Treibstoff zu bekommen, sagt der Pressebeauftragte der Diakonie Katastrophenhilfe, Tommy Ramm, in Port-au-Prince. Schließlich werde Sprit in der haitianischen Hauptstadt auf dem Schwarzmarkt mittlerweile schon mit fast 3,50 Dollar (etwa 2,40 Euro) pro Liter gehandelt.

Die dominikanische Regierung hat bereits vergangene Woche die Kontrollen an den Grenzen verschärft. Immerhin kamen durch das Erdbeben im Nachbarland auch rund 4000 Häftlinge frei, deren Gefängnis zusammenbrach. Solche Nachbarn wollen die Dominikaner dann doch nicht bei sich haben.