Sandhausen. Nach dem zu früh gefeierten Aufstieg bleiben dem HSV bis zur Relegation gegen Stuttgart nur vier Tage, um die Köpfe aufzurichten.
Am Morgen nach dem dramatischsten Moment in der vierjährigen Amtszeit von Jonas Boldt demonstrierte der Sportvorstand des HSV Geschlossenheit. An der Seite von Trainer Tim Walter sowie Direktor Profifußball Claus Costa ging Boldt im Volkspark mit aufrechter Haltung zum Training der Reservisten.
Es war ein bewusst gewählter Auftritt im Blickfeld der Medienvertreter mit symbolischer Aussagekraft: Der HSV tritt nach dem verpassten direkten Aufstieg und dem ungewollten Einzug in die Relegation als Einheit auf und versucht auch in einer der schwersten Stunden der Clubgeschichte Zuversicht zu vermitteln.
Schon kurz nach dem Drama von Sandhausen, als der HSV dank eines traumhaften Volleys von Jean-Luc Dompé zwar 1:0 (1:0) gewann, aber durch zwei späte Heidenheimer Tore in der Nachspielzeit von Regensburg doch noch von Platz zwei verdrängt wurde, zeigten sich die Hamburger kämpferisch.
„Wir haben jetzt die Chance, etwas Besonderes zu schaffen“, kündigte Boldt im Hinblick auf die beiden K.-o.-Spiele (1./5. Juni) gegen Bundesligist VfB Stuttgart an, gegen den der HSV immer noch den Aufstieg aus eigener Kraft erreichen kann.
HSV vor riesiger mentaler Hürde
Die größte Herausforderung gegen den individuell stärker besetzten Gegner wird es nun sein, die mental am Boden liegende Mannschaft wieder aufzurichten, nachdem sich der HSV für zehn Minuten als Aufsteiger fühlen durfte. Doch bis zum Hinspiel am Donnerstag (20.45 Uhr) bleiben nur vier Tage Zeit, um die Bilder von Sandhausen, wo sich Fans, Spieler und Walter wegen einer chaotischen Informationslage bereits im Ziel wähnten, zu verarbeiten.
„Ich dachte, wir hätten unseren Traum erreicht, aber er ist dann doch zerplatzt“, gestand Kapitän Sebastian Schonlau, der nicht als Einziger mit einer schmerzhaften Wucht aus dem Aufstiegstraum gerissen wurde.
In der Kabine, wo einige Spieler das 3:2 von Heidenheim im Radio hörten, habe er nur „hängende Köpfe“ gesehen. „Das ist aber auch nur menschlich“, ordnete Schonlau mit glasigen Augen die Emotionen der Mannschaft ein. Auch wenn es ihm spürbar schwerfiel, versuchte der Abwehrchef zumindest, den Blick nach vorn zu richten. „Es ist jetzt unsere Aufgabe, wieder aufzustehen. Dass wir das können, haben wir oft genug bewiesen.“
Steht der HSV noch einmal auf?
Tatsächlich hat sich der HSV längst zu einem schwankenden Stehaufmännchen entwickelt. Der einstige Dino erleidet zwar in regelmäßigen Abständen neue Rückschläge und zieht das Drama fast schon magnetisch an, ist unter Walter aber zugleich in der Lage, sich von jedem Nackenschlag zu erholen. Auch gegen Stuttgart?
„Meine Mannschaft ist total charakterstark“, sagte Walter mit energischer Stimme. Er mache sich „überhaupt keine Sorgen“, dass seine Spieler mentale Probleme haben könnten. Und auch Boldt ist zuversichtlich, „dass die Jungs die Qualität haben, sich wieder aufzurappeln“.
Kurios: HSV am Boden, VfB gestärkt
Dabei ist es schon kurios, dass der HSV als Zweitligist vor der Relegation überhaupt in die Situation gerutscht ist, sich aufrichten zu müssen. In der Regel hat der unterklassige Verein einen psychologischen Vorteil gegenüber dem Erstligisten, der zumeist eine schlechte Saison gespielt haben muss, um in die Saisonverlängerung zu gehen.
Doch dieses Jahr scheinen die Rollen vertauscht worden zu sein, denn der VfB kommt aus einer sportlich guten Phase und hat unter dem im April neu verpflichteten Trainer Sebastian Hoeneß nur eines von acht Spielen verloren.
Die Schwaben haben zwar am Wochenende ihren Matchball vergeben, als ein Sieg im Heimspiel gegen Hoffenheim (1:1) zum Klassenerhalt gereicht hätte. Beim Vergleich der Bilder aus Stuttgart und Sandhausen muss man allerdings kein Prophet sein, um die mentale Hürde für den HSV zu erkennen. „Vielleicht ist es auch gut, dass wir nicht viel nachdenken können, sondern direkt ein Spiel vor der Brust haben“, sagt Boldt.
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HSV: Boldt will Relegation abschaffen
Auch ungeachtet der psychologischen Ausgangslage wirkt Stuttgart auf den ersten Blick übermächtig. Der VfB (60 Millionen Euro) hat seinen Kader mit einem fast dreimal so großen Etat wie der HSV (22) zusammengestellt. Ein finanzielles Ungleichgewicht, das für einen sportlich ungleichen Wettbewerb sorgt, weshalb sich sowohl Walter als auch Boldt die Abschaffung der Relegation wünschen.
„Es kann nicht das Interesse sein, dass sich immer der Erstligist durchsetzt“, sagt der HSV-Manager, der eine Debatte über neue Aufstiegsmodelle entfachen will. Allerdings drehte sich die Debatte beim HSV am Montag vor allem um die Ticketpreise.
Während beim VfB die Dauerkarteninhaber beim Relegationshinspiel freien Eintritt haben, müssen sie beim HSV ein zusätzliches Ticket kaufen. Das sorgte für Ärger bei zahlreichen Fans. Im vergangenen Jahr gab es gegen Hertha eine Sonderregelung. Wirtschaftlich profitierte der HSV schon da von den Extraeinnahmen.
Stuttgart macht dem HSV Hoffnung
Wie vor einem Jahr, als der HSV an Hertha BSC scheiterte, setzte sich von den vergangenen zehn Relegationen neunmal der Bundesligist durch. Boldt dürfte die Statistik allerdings ganz genau gelesen und zugleich Hoffnung daraus geschöpft haben. Denn der Erstligist, der als Einziger in diesem Zeitraum unterlegen war, war der VfB Stuttgart im Jahr 2019, als zwei Unentschieden gegen den damaligen Zweitligisten Union Berlin (2:2 und 0:0) den Abstieg der Schwaben besiegelten.
Diesmal würde die Auswärtstorregel jedoch nicht zur Entscheidung führen, der HSV muss also mindestens ein Spiel gewinnen, um den Aufstieg nach der kurzen Euphorie von Sandhausen ein zweites Mal feiern zu können.
Allerdings muss Walter in beiden Partien gegen seinen Ex-Club, der ihn 2019 einen Tag vor Heiligabend entlassen hatte, auf Laszlo Benes verzichten. Der Mittelfeldspieler musste nach nur 19 Minuten mit Verdacht auf Muskelfaserriss ausgewechselt werden. Gegen Stuttgart wird Ludovit Reis nach abgesessener Gelbsperre in die Startelf zurückkehren, genau wie Bakery Jatta.
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HSV-Chef Boldt macht Aufstiegsansage
Nicht mehr nach Hamburg zurückkehren wird dagegen der verliehene Maximilian Rohr, da der SC Paderborn die Kaufoption gezogen hat. Eine Niederlage in der Relegation hätte noch weitere Abgänge, wie zum Beispiel die von Reis und wohl auch Torjäger Robert Glatzel, zur Folge.
Doch mit solchen Gedanken wollen sich die Verantwortlichen im Volkspark noch nicht beschäftigen. Ob er an einen Sieg in der Relegation glaube, wurde Boldt am Sonntag gefragt. „Ja“, antwortete der Vorstand ohne lange zu überlegen und legte selbstbewusst nach: „Ausrufezeichen!“