In unserer Serie treffen wir Menschen aus Stormarn auf ihrer Lieblingsbank. Heute ist es Gisela Rasch, die mit 55 Jahren die Schulbank drückt.
Ahrensburg. Sie hat kurz geschnittene Haare. Sie schminkt sich. Sie lebt in einer kleinen Wohnung an der Straße Am Weinberg in Ahrensburg. Und um in die Stadt zu kommen, hat sie den Bus genutzt - in der Tasche ihr Handy, um schnell erreichbar zu sein. Gisela Rasch ist eine moderne Frau. Und doch klingt ihre Lebensgeschichte wie ein Märchen. Allerdings nicht, weil sie so schön wäre, sondern weil sie so unglaublich ist.
"Meine Brüder haben die Schule besucht und durften abends ausgehen. Ich nicht. Ich musste zu Hause bleiben. Statt zur Schule zu gehen, habe ich meine kranke Mutter gepflegt und den Haushalt gemacht. Selbst bei schönstem Wetter musste ich Wäsche waschen und bügeln", sagt die 55-jährige, die wie Aschenputtel schuftete. Mittlerweile kann sie ganz ruhig darüber sprechen. Vergessen kann sie es nicht, denn diese Vergangenheit ist eine Bürde für sie, an der sie noch heute trägt: "Ich habe nie einen Schulabschluss gemacht und nie Lesen und Schreiben gelernt."
Hat denn keiner von der Schule angerufen und sich gekümmert, dass sie zum Unterricht kommt? "Nein." Und die Schulkameraden? "Ich hatte eine Freundin, die hat meinen Eltern manchmal Feuer gemacht und darum gekämpft, dass ich raus konnte. Aber wirklich genützt hat das nichts." Und der Vater? "Der fuhr zur See."
Mehrfach hat sie später versucht, das Versäumte nachzuholen. "Ich habe mehrere Kurse angefangen. Aber erst wurde meine Schwiegermutter krank, dann mein Schwiegervater. Also musste ich abbrechen."
Jetzt als erwachsene Frau unternimmt sie den ersten ernsthaften Versuch, um endlich wie jeder andere die Speisekarte im Restaurant lesen zu können. "Ich habe früher immer zum Ober gesagt, ich hab' meine Lesebrille vergessen. Der hat's zum Glück geglaubt", erinnert sich Gisela Rasch. Das reicht ihr nicht mehr. Sie will auch endlich die Preisschilder lesen können, wenn sie im Supermarkt einkauft: für die Hartz-IV-Empfängerin eine geradezu existenzielle Fähigkeit.
Unterstützung bekommt sie im Ahrensburger Spielzeugaufbereitungszentrum (SPAZ). Hier werden Langzeitarbeitslose beschäftigt. Auch Gisela Rasch arbeitet hier, für einen 1,02 Euro die Stunde, montags bis freitags, 30 Stunden die Woche. Bis auf zwei Stunden am Montagvormittag. Dann verlässt sie die Werkstatt und geht einen Raum weiter - in die Schule. In ihre ganz eigene Schule, in der sich die Germanistin Tatjana Koch um sie und um zehn weitere erwachsene Schüler kümmert.
Möglich macht das der diakonische Ausbildungsverbund Stormarn/Lauenburg, der Träger von SPAZ ist und das Programm "Arbeitsbezogenes Deutsch" aufgelegt hat. Die anderen Teilnehmer kommen, weil sie eine andere Muttersprache haben. Gisela Rasch kommt, um lesen und schreiben zu lernen. "Ich habe Fortschritte gemacht", sagt sie und holt fast weihevoll ihr Übungsbuch aus der Stoffbeutel.
Es sind Kopien eines Arbeitsbuches, jedes Blatt durch eine Folie geschützt. "Damit das Papier nicht kaputtgeht", sagt die Ahrensburgerin. Sie schlägt eine Seite auf und geht mit dem Finger die Zeile entlang. "Onkel Otto rudert auf dem See", liest sie vor. Langsam, aber ohne zu stocken. "Onkel Otto geht ins Kino." Der zweite Satz geht schon schneller. Es gehört Mut dazu, solche Sätze vorzulesen. "Wenn sich einer über mich amüsiert, kriegt er Ärger mit meiner Lehrerin", sagt Gisela Rasch.
14 Übungszettel hat sie in der Hand: das beachtliche Pensum für eine Woche. Die 55-Jährige schreckt das nicht. "Am Anfang musste ich tüfteln. Jetzt habe ich den Bogen raus. Das klappt ohne Ende", sagt die Ahrensburgerin. Lächeln tut sie nicht dabei. Die Sache ist ernst. "Ich hab' schon das vierte Buch in der Mangel. Meine Lehrerin sagt: 'Du bist zu schnell für mich.'"
Bezahlen muss Gisela Rasch den Unterricht nicht. Das könnte sie auch gar nicht. Rund 350 Euro hat sie zum Leben. Die ARGE, die ihr auch den Platz im Spielzeugaufbereitungszentrum vermittelt hat, übernimmt auch die Kosten für den Kursus. Gisela Rasch ist froh darüber und hat schon eine Verlängerung erreicht. "Eigentlich wäre nach einem halben Jahr schon Schluss gewesen. Aber nun geht es bis November weiter. Vielleicht wird er ja noch einmal verlängert."
Was wäre in ihrem Leben anders gelaufen, hätte sie Lesen und Schreiben gelernt? Gisela Rasch zögert nicht einen Augenblick: "Ich hätte einen richtigen Beruf gelernt. Mein Traum war immer Kindergärtnerin oder Altenpflegerin."
Nun stellt sie bei SPAZ Spielzeug her, zurzeit Adventskalender aus Holz in Form eines Lastwagens. Vorher war sie bei der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgsellschaft, hat Wohnungen ausgeräumt und Möbel geschleppt. "Ich war auch Zimmermädchen im Park Hotel, Aushilfe in der Druckerei Schacht und Küchenhilfe im Rauhen Haus."
Jetzt hofft Gisela Rasch, über SPAZ wieder in einen regulären Beruf hineinzurutschen. Am liebsten würde sie im Kindergarten anfangen.
Auf ihren Mann kann sie nicht setzen. "Der hat mir nur Schulden hinterlassen", sagt Gisela Rasch. Schon vor Jahren hat sie sich von ihm scheiden lassen. Und ihre beiden erwachsenen Kinder? "Ich habe keinen Kontakt mehr." Trotz allem gibt es einen Lichtblick: Seit neun Jahren hat Gisela Rasch einen Freund. "Mit ihm habe ich mein Glück gefunden", sagt Gisela Rasch, und diesmal kommt die schöne Seite des Märchenhaften in ihrem Lebens zum Vorschein: Sie hatte zwar keinen goldenen Schuh verloren, sondern ihn in einer Kneipe kennengelernt. Ihr Prinz hat auch kein Schloss, sondern ist Rentner und lebt in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Aber er ist immer für sie da und hilft ihr bei den Hausaufgaben.