In unserer Serie treffen wir Menschen aus Stormarn auf ihrer Lieblingsbank. Heute ist es ein sehbehinderter Geistlicher, der durch Umarmungen Kontakt zu anderen aufnimmt.
Reinbek. "Wer bist du?", das ist die Einstiegsfrage, mit der Benedikt Kleinhempel anderen Menschen begegnet. Der Gemeindepfarrer hat nur wenige Sehnerven. Er kann - wenn er mit der Nase fast das Papier berührt - die große Schrift des blauen Filzstiftes in seinem Kalender erkennen, der auf dem Lesepult im Pfarrbüro liegt. Er sieht Umrisse, aber keine Gesichter. Seit 1984 ist er Seelsorger in der Ansgar Kirchengemeinde Schönningstedt-Ohe, für zwei Kirchen zuständig. "Ich umarme viel. Den Kontakt hole ich mir über die Berührung," sagt Kleinhempel. Ein Pastor, der Hilfe braucht - das schaffe schnell Nähe. Von Anfang an entfalle jede Hierarchie. Seine Bewegungen sind schnell, auch seine Sprache ist es, nur ein wenig vorsichtig wirkt er. "Ich kriege es immer wieder hin, mich selbst in Zeitdruck zu bringen. Bin nie in Ruhe vor der Zeit da", sagt er. Einen "Just-in-Time-Arbeiter" habe ihn deshalb ein Kirchenvorsteher einmal genannt.
Die Gespräche und Besuche seien das Wichtigste, das Sinnvollste an seiner Arbeit. "Gemeindearbeit ist ein stilles Bohren dicker Bretter." Sich selbst beschreibt er als Suchenden. "Ich fühle mich immer etwas fremd, als ob ich da hineinwachsen muss", sagt er und meint damit auch seinen Glauben. Geprägt hat ihn der frühe Tod des Vaters. Der Werbefotograf starb mit 59. Danach stellte sich für den 16-Jährigen Benedikt die Sinnfrage. Auch weil er sich mit seiner Sehbehinderung nie vollständig angenommen fühlte. Bei der Suche nach einem Lebensziel half der Unterricht in Religionsphilosophie am Gymnasium. Besonders der Satz "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", beeindruckte ihn. "Wir kämpfen alle irgendwie rum, es wäre doch leichter, wenn man sich gegenseitig helfen würde." Vom Psychologiestudium riet ihm der Stiefvater ab, empfahl Theologie. Damit blieb der Zweitgeborene der Exot in der Familie, die beiden Brüder und drei Stiefschwestern sind Juristen, Journalisten oder gingen in die Wirtschaft. Nach dem zweiten Staatsexamen bot man ihm seine heutige Gemeinde an. Er besuchte die Kirche am Salteich, in der noch die Stühle von einer Zusammenkunft wirr herum standen, und hatte das Gefühl: "Hier ist auch alles nicht so akkurat, hier passe ich hin."
Das es passt, empfindet Kleinhempel noch heute so: "Ich mag das Ländliche an der Gemeinde, das Bodenständige an den Menschen. Ich finde hier immer wieder neue Herausforderungen." Seine erste Ehe, geschlossen 1984 bei Antritt in der Gemeinde, hielt dem nicht stand. Seine Frau zog nach sechs Jahren aus. Er nennt sich scherzhaft einen Pilger, weil er viel zu Fuß in Reinbek und seiner Gemeinde unterwegs ist. Kontakte entstehen am Gartenzaum, am Wanderweg, im Café oder in der Kneipe. "Vieles läuft informell, in Kneipen erfährt man auf dem Weg vom Tresen zur Tür die härtesten Schicksale", sagt der Seelsorger. Weil er so viel unterwegs ist, hat er bei der Frage nach seiner Lieblingsbank auch die Qual der Wahl. Vor seiner Kirche am Salteich in Schönningstedt steht eine, auch vor der Oher Kirche gibt es eine Bank. Und am neu angelegten Wanderweg in seiner Gemeinde. Regelmäßig sitzt er jedoch auf der Bank vor der katholischen Herz-Jesu Kirche in Reinbek. Hier könne er gut nachdenken. "Er denkt sich immer etwas Besonderes aus in der Gemeindearbeit", sagt sein Freund Uwe Frommhold (52). Den Geschäftsführer der Hamburger Color-Line Arena gewann Kleinhempel in 2007 für sein Projekt der Reinbeker Hörbibel. 24 Reinbekerinnen und Reinbeker lasen dort ihre Lieblingstexte aus der Bibel für eine CD, die zu Gunsten der Kinder- und Jugendarbeit verkauft wurde. Darunter Professor Dr. Thomas Straubhaar, der ehemalige Reinbeker Bürgermeister Detlef Palm, Schlossherr Bernd Michael Kraske, Kinderbuchautorin Marlies Bardeli und die Pastoren der fünf anderen Reinbeker Kirchengemeinden. Für das Vorwort gewann er den früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Ihn lernte er, genau wie den ehemaligen Bundespolitiker Rainer Barzel, der 2005 in Schönningstedt eine Laienpedigt hielt, über seinen Stiefvater Olaf Baron von Wrangel kennen, ein bekannter Journalist und CDU-Politiker. "Mein Ehrgeiz war es immer, eine Gemeinde mit einem eigenen Gesicht zu schaffen", sagt der Pastor. Zu Pfingsten ließ er schon mal einen Arzt, eine Krankenschwester und eine Krankengymnastin ein Heilungswunder auslegen. "Man kann beim Glauben ja nicht den Verstand abgeben."
Wenn die Bundestagswahlen vorbei sind, dürfen auch Abgeordnete auf die Kanzel. Und nach den Sommerferien begrüßt er seine Gemeinde mit dem Schlagergottesdienst. Er hält viel davon, die Menschen der rund 1500-Seelen-Kirchengemeinde an seiner Arbeit zu beteiligen. Deshalb hat er von Anfang an die Lektorenarbeit gefördert. Kleinhempel legt ganze Gottesdienste in die Hände von Nicht-Theologen. "Von der Gemeinde - für die Gemeinde" heißt das Motto.
Beim täglichen Leben unterstützen ihn eine Vorleserin und ein Zivildienstleistender als Fahrer. Dem Computer als Arbeitsmittel nähert er sich gerade mittels eines Blindenprogramms. Seine Predigten, Trauerreden oder Taufansprachen formuliert er immer frei. Er spricht, wie er empfindet. Dass seine Worte bei den Menschen ankommen, kann er nicht sehen. Aber er merke es an den positiven Reaktionen nach dem Gottesdienst. "Manchmal würde ich am liebsten vorher alle einmal umarmen, damit ich spüre, dass sie glauben, dass ich es gleich gut machen werde."