Ausgerechnet in Gorleben gibt es kaum Widerstand gegen die Castor-Transporte. Der Ort bekommt Entschädigungszahlungen.
Gorleben. Man muss lange durch Gorleben gehen und genau hingucken, bis man eines der Widerstandssymbole gegen Kernkraft und Atommülllagerung entdeckt. Die im übrigen Wendland so zahlreichen schwarz-gelben Tonnen und die wie verstrahlt aussehenden Stoffpuppen gibt es hier gar nicht. Das gelbe X und selbst kleine Protestplakate sind so selten wie Wärmegewitter im November. Ausgerechnet in Gorleben!
Staunend steht der Besucher nach der ersten erfolglosen Suche auf dem dreifarbig gepflasterten Parkplatz vor dem größten Gebäude des kleinen Dorfes. "Unsere Mehrzweckhalle wurde von Entschädigungsgeldern gebaut", erklärt eine ältere Dame, die wie jeden Dienstag und Donnerstag Badminton spielen will. "Von Schweigegeldern der Atomlobby wurde diese herrliche Halle bezahlt", formuliert ihre jüngere Freundin etwas griffiger. "Wir haben 91 Castoren um die Ecke. Keine 1000 Meter Luftlinie entfernt lagern sie überirdisch in einer Leichtbauhalle. Weil im Dorf nur ja keine Kritik am hochradioaktiven Müll aufkommen soll, hat die Atomindustrie uns diese Halle hingestellt. Und nicht nur die Halle."
Plötzlich zieht die ältere Dame die jüngere weg. "Verbrenn' dir nur nicht die Zunge", flüstert sie hinter vorgehaltener Hand. "Sonst steinigen uns die anderen noch." Sie lächelt, aber meint es ernst. Die beiden Frauen gehen jetzt doch lieber Badminton spielen.
Viele Bewohner wirken trotz der Castorbehälter in unmittelbarer Nachbarschaft sehr zufrieden. Die Mehrzweckhalle ist ein Sport- und Freizeitpalast, wie ihn sich sonst höchstens Großkonzerne, korrupte Politiker oder Multimillionäre auf ihren von der Allgemeinheit streng abgeschotteten Betriebsgeländen oder in Reichen-Wohnsiedlungen leisten. In Russland, China oder anderen nicht eben für Demokratie bekannten Ländern. So einen Sporttempel kann sich ein deutsches Dorf mit 525 Einwohnern normalerweise nicht leisten. Schon gar nicht in einer so strukturschwachen Gegend wie dem Wendland. Rund drei Millionen Euro hat der Bau des Sportzentrums 1992 gekostet. Es gibt einen Fitnessraum, vier Kegelbahnen, eine Handballhalle mit Zuschauertribüne und elektronischer Anzeigetafel, in der auch Badminton, Tennis, Tischtennis und Hallenfußball gespielt wird und Dorffeste gefeiert werden. Im lichtdurchfluteten Foyer lädt ein Bistro mit tschechischem Bier zum Verweilen ein. Unter dem Dach im ersten Stock gibt es zwei Schießbahnen, eine 50 Meter lang für Luftgewehr, die andere zehn Meter lang für Kleinkaliber.
"Unser TuS Gorleben hat über 300 Mitglieder. Wir haben hier einfach alles. Und das für die Mitglieder zum kleinen Preis", sagt Monika Röske, 65, Kassenwartin des Vereinsvorstands und Abteilungsleiterin Breitensport. An der Heckscheibe ihres grauen Ford hat sie mit einem Aufkleber ihre Meinung zu der momentan durch ganz Deutschland brandenden Atomdiskussion dokumentiert: "Gorleben - Entsorgung ist Umweltschutz", steht da drauf. Zwölf Euro kostet die Jahresmitgliedschaft im Verein. Kinder zahlen die Hälfte. Und wenn mal Badmintonschläger, Judomatten oder Fußbälle fehlen oder zerschlissen sind, ein Anruf beim Gemeinderat genügt, sofort werden die Sachen neu gekauft. "Wir haben hier Bedingungen, von denen die meisten anderen Gemeinden nur träumen können", sagt Monika Röske.
+++ Gorleben in Kürze +++
Ein weiterer Rundgang durch Gorleben - im Norden die Elbe, im Süden das Atommüll-Zwischenlager und das noch zu erkundende Endlager-Bergwerk - bestätigt Frau Röskes Worte. Bürgersteige, Bushaltestellen, Asphalt und Straßenbeleuchtung sind in perfektem Zustand. Neben dem Sportpalast gibt es auch einen Jacht- und Sportboothafen, der eine Million Euro gekostet hat. Einen Fußballplatz mit englischem Rasen und einen Trainingsplatz mit sechs Flutlichtmasten. Die Tennisanlage mit Klubhaus und drei Plätzen ist nur einen Steinwurf entfernt. Es gibt auch einen kostenlosen Kindergartenbus, der den Gorlebener Nachwuchs zu Hause abholt und wieder zurückbringt. Rund 2000 Euro zahlt die Gemeinde monatlich für die Busanmietung. Die örtliche Altenbetreuerin Schwester Bettina bemuttert etwa 30 Rentnerinnen und Rentner aus dem Dorf, besucht sie zu Hause, hält mit ihnen Kaffeekränzchen, erledigt mit ihnen Behördengänge, fährt mit ihnen einkaufen. Ohne dass die Alten auch nur einen Cent für die spezielle Serviceleistung dazuzahlen müssen. Über 50 000 Euro fließen pro Jahr aus der Gemeindekasse in die exklusive Altenbetreuung. Es gibt im Ort eine Rettungsstation des Roten Kreuzes, ein Hotel mit 16 Zimmern, eine Bäckerei, ein Restaurant mit drei Gästezimmern, ein kleines Gewerbegebiet. Gewerbe- und Grundsteuer sind sensationell niedrig. Gorlebens Bewohner leben in einer Art sozialem Schlaraffenland mit maximierter Infrastruktur. Hier wird, anders als in den Käffern ringsherum, kein Mangel verwaltet.
Kohle gegen Klappe halten. Das ist der Pakt, den die Atomindustrie mit Gorleben geschlossen hat.
"Wir leben sehr gut mit dem Atommüll-Zwischenlager in der Nachbarschaft", sagt Gorlebens Bürgermeister Herbert Krüger, 72, von der Wählergemeinschaft, die sich politisch in der CDU/FDP-Ecke ansiedelt. Krüger, ehemaliger Busfahrer und Postangesteller, ist bereits seit 23 Jahren Bürgermeister. Er soll, wird im Dorf kolportiert, mit den Atommüll-Managern gemeinsam zur Jagd gehen. Woher der Reichtum seiner Gemeinde stammt? Krüger winkt aggressiv ab. Darüber will er nicht sprechen. Sein Stellvertreter Klaus Hofstetter, 61, SPD, war 26 Jahre beim Brennelementelager im Strahlenschutz tätig. Auch er schweigt sich in puncto Gelder aus. "Ich sage gar nichts", sagt er, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, das Kinn mürrisch nach vorne geschoben.
Bei der letzten Wahl wurde Bürgermeister Krüger von den neun Gemeinderatsmitgliedern, auch von den zwei SPD-Mitgliedern und den beiden Grünen, einstimmig gewählt. In den Ausbau seines Bürgermeisteramts, einer ehemaligen Scheune, hat die reiche Gemeinde 400 000 Euro gesteckt.
Rund 30 Gorlebener arbeiten in den Atomanlagen, auch Reinhard König, der Geschäftsführer des Zwischenlagers, wohnt hier. Eine kleine Angestellte verrät, dass vor ihrer Einstellung genau gecheckt worden sei, ob sie ein X im Vorgarten habe oder schon mal bei einer Anti-Atom-Demonstration marschiert sei. "Ich wurde sogar gefragt, ob ich eine Solaranlage auf dem Dach habe und wie ich und mein Mann zur Kernenergie stehen", sagt die Mitarbeiterin des Zwischenlagers, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, "weil das den Rausschmiss bedeutet".
Die Arbeitslosigkeit in Gorleben liegt weit unter dem 11-Prozent-Schnitt des Wendlands. Die Gemeinde schwimmt im Geld. Und der mächtige Großsponsor, der hinter dem atemberaubenden Wohlstand steckt, ist die Atomindustrie. Die Gesellschaft für Nuklear-Service (GNS) und das Brennelementlager Gorleben (BLG). Das ist der Grund, warum es ausgerechnet in Gorleben fast keinen Widerstand gegen das Zwischenlager, die Castortransporte, verlängerte Laufzeiten und Endlagererkundung gibt. Und die sonst im Wendland so zahlreichen Symbole der Atomkraftgegner, die Fässer, Kreuze und Stoffpuppen so selten sind. In Gorleben herrscht eine Art Gesetz des Schweigens. Nach dem Motto: Wir kriegen Kohle und halten die Klappe. Das ist auch der Kernpunkt des Pakts, den der Gemeinderat mit der Atomindustrie geschlossen hat.
Der Ansiedlungsvertrag zwischen Gemeinde und Brennelementelager wurde bereits Ende der 70er-Jahre unterzeichnet. Sieben Ratsmitglieder waren für die Ansiedlung der Atomindustrie, zwei dagegen. Seitdem sprudeln als Gegenleistung für das Zwischenlager jährlich üppige, als "Strukturhilfemittel" deklarierte Zahlungen in die Gorlebener Gemeindekasse. Momentan 590 000 Euro pro Jahr. Das ist viel für ein so kleines Dorf.
Hinzu kamen und kommen die Sponsorengelder, zinslose Darlehen und Zuwendungen sowie Steuereinnahmen in Millionenhöhe. In den Ansiedlungsvertrag wurde zudem eine Wohlverhaltensklausel eingebaut. Gorleben verpflichtet sich darin, sich gegenüber der Atomindustrie unkritisch zu verhalten. "Die Gorlebener müssen wirklich nicht auf den Tausender achten, das Dorf ist in finanzieller Hinsicht kerngesund und hat immer Rücklagen von drei bis dreieinhalb Millionen Euro, die als Festgeld mit einem Zinssatz von bis zu 4,575 Prozent angelegt sind", erklärt Hans-Heinrich Drimalski, 51, parteilos, Vertreter des Bürgermeisters der Samtgemeinde Gartow, zuständig auch für Gorlebens Gelder, im aktuellen Haushaltsplan blätternd.
"Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, dass eine Kommune sich nicht nur ihren Haushalt von einer Hochrisiko-Technologie finanzieren lässt, sondern auch ihr Wohlverhalten gegenüber dieser Industrie vertraglich vereinbart hat. Durch diesen Vertrag haben sich nicht nur diejenigen verpflichtet, die ihre Unterschrift darunter gesetzt haben, sie hinterlassen diese Bindung auch noch zukünftigen demokratisch gewählten Gremien. Als wenn dies noch nicht genug der Vorfestlegung ist, wurde gleich mit vereinbart, dass auch Dritten, die der Ansiedlung von Atomanlagen kritisch gegenüber stehen, keine dieser Gelder zukommen dürfen. So etwas kenne ich sonst nur aus Mafiafilmen", sagt Martin Donat, 47, stellvertretender Landrat von der Grünen Liste Wendland, der Gorleben gerne mal "Klein Palermo" nennt.
Der Elbfischer Christian Köthke, 63, ist einer der wenigen, die sich im Dorf offen als Atomkraftgegner bekennen. Die Gorleben-Gelder sind für ihn "von der Politik legalisierte Bestechungsgelder", sagt er: "Zu viele Leute leben hier nach dem Motto: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Das ist menschlich, kann ich sogar verstehen. Jeder muss zusehen, wie er durchkommt. Aber ich mache da nicht mit. Und ein paar andere auch nicht."
Doch auch Köthke hat kein gelbes Kreuz, keine verstrahlte Stoffpuppe im Garten. Wenn er was hinstelle, werde es gleich geklaut. Atomkraftgegner müssten in Gorleben immer damit rechnen, dass Protestsymbole nachts entfernt werden, sagt der Aktivist, der gemeinsam mit Greenpeace und der Kirche kürzlich Klage gegen die Weitererkundung des Gorlebener Salzstocks als atomares Endlager eingereicht hat. Die Klage hat vor dem Verwaltungsgericht in Lüneburg nun aufschiebende Wirkung, weswegen die Erkundungsarbeiten nach dem zehnjährigen Moratorium im Salzstock vorerst nicht beginnen können.
Ursel Riedel, 68, Laborantin bei einem Biosafthersteller, und ihr Mann Ernst-Horst, 86, ehemaliger Zahnarzt, haben an die Wand ihres Holzhauses ein kleines Protestplakat geklebt. "Castoralarm. Mit Gorleben kommen sie nicht durch", steht da drauf. Kürzlich kam ihr Nachbar von schräg gegenüber vorbei und monierte, was das Plakat denn solle. Er habe sich beim Zwischenlager als Schutzmann beworben. Und bekennende Atomgegner in der Nachbarschaft zu haben, das mache sich momentan für ihn persönlich gar nicht gut. "Schlimm, dass hier viele Leute so verblendet sind und mit Scheuklappen herumlaufen", klagt Ursel Riedel. "Wir jedenfalls lassen uns nicht kaufen", sagt ihr Mann augenzwinkernd. "Und auch unser Protestplakat nicht klauen."