EHEC-Epidemie: Die Zahl der Infektionen steigt weiter. Ärzte in Schleswig-Holstein gehen davon aus, dass Tausende angesteckt sind.
Kiel. Die EHEC-Krise hat sich weiter verschärft. In Schleswig-Holstein ist die Zahl der Kranken mit schweren neurologischen Komplikationen stark gestiegen. Über „völlig abgedrehte Patienten“ berichtete ein Arzt in Kiel. Von einer dramatischen Zunahme der Komplikationen mit HUS und neurologischen Folgen sprach Prof. Hendrik Lehnert vom Universitätsklinikum.
Weiter erhöht hat sich auch die Gesamtzahl der Patienten: Bis Mittwoch 14 Uhr wurden 458 bestätigte Infektionen (Vortag: 360) und 130 Fälle mit der schweren Komplikation HUS gemeldet (120). Am Donnerstag erklärte ein Ministeriumssprecher: „Wir gehen davon aus, dass die Zahlen weiter steigen“ – allerdings nicht so sprunghaft wie von Dienstag auf Mittwoch. „Von einer Trendwende kann aber nicht gesprochen werden.“ Neue Krankheitszahlen will das Ministerium voraussichtlich erst am kommenden Montag veröffentlichen.
Allein das Universitätsklinikum behandelt in Kiel und Lübeck rund 180 EHEC-Patienten stationär, darunter 100 mit nachgewiesener Infektion und 95 mit dem lebensbedrohlichen hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS). Etwa jeder zweite HUS-Patient bekomme zum Teil sehr schwere neurologische Komplikationen, die oft drei bis vier Tage nach dem Beginn des Syndroms auftreten, sagte Lehnert, der in Lübeck die Medizinische Klinik I leitet. In den leichteren Fällen treten moderate Konzentrations- und Koordinationsstörungen auf, in den schwereren unter anderem epileptische Anfälle. Etwa 60 Prozent der Betroffenen leiden unter den schwereren Folgen.
„Wir haben Patienten, die überhaupt keinen Durchfall haben, aber schwere neurologische Symptome“, schilderte der Direktor der Klinik für Innere Medizin IV in Kiel, Prof. Ulrich Kunzendorf, am Mittwoch. Weil in der Regel nur fünf bis zehn Prozent der Infizierten an den HUS-Komplikationen leiden, gehen die Uni-Ärzte davon aus, dass sich allein im Norden Tausende mit EHEC angesteckt haben. Es gebe Fälle, wo sich Patienten innerhalb einer Familie parallel infiziert oder Keime weitergegeben haben, sagte der Kieler Gastroenterologe Prof. Stefan Schreiber. Nach seinen Angaben bekommen EHEC-Patienten jetzt früher Antibiotika, um zu versuchen, den Keim abzutöten. Hintergrund: Die pathologische Untersuchung einer gestorbenen Frau hatte ergeben, dass ihr gesamter Magen-Darm-Trakt entzündet war.
Im Hinblick auf die Therapie sprach Schreiber von einer „Situation medizinischer Hilflosigkeit“ und zog die Pest zum Vergleich heran. „Es gibt keine Therapie-Standards, nach denen die Patienten behandelt werden können“, sagte der Lübecker Nephrologe Prof. Jürgen Steinhoff. „Wir stehen vor völlig unerwarteten Krankheitsverläufen, die wir bisher noch nicht kannten“, bekannte Prof. Lehnert. 40 Patienten werden am Uniklinikum mit dem Antikörper Eculizumab behandelt. Definitive Aufschlüsse über die Wirkung erwarten die Experten erst in mehreren Wochen. „Viele Patienten werden einen schweren Nierenschaden behalten“, sagte Prof. Kunzendorf voraus.
Für Prof. Schreiber sind die klinischen Erkrankungen und die Komplikationen nicht auf einen Zufall zurückzuführen: Die genetische Forschung habe klar gezeigt, dass die Empfänglichkeit für Krankheiten oft durch vererbte Faktoren festgelegt sei. Um der genetischen Empfänglichkeit für EHEC auf die Spur zu kommen, setzen Kieler Experten jetzt die Bio-Datenbank Popgen ein, eine der weltweit größten nationalen Biobanken. Sie wollen die DNA von EHEC-Infizierten mit der von gesunden Schleswig-Holsteinern vergleichen und Übereinstimmungen suchen, um genetische Risikofaktoren für eine Infektion zu erkennen.
Das Uniklinikum hat für die EHEC-Patienten vier zusätzliche Stationen mit rund 100 Betten eingerichtet. „Gewaltige finanzielle Einbrüche“ befürchtet Prof. Schreiber aus der Tatsache, dass Operationen von Patienten, die nicht lebensbedrohlich erkrankt sind, verschoben werden.
Die Mediziner gehen davon aus, dass die EHEC-Krise noch längst nicht zu Ende ist. „Es wird auch weitere Patienten geben, die wir verlieren“, sagte Prof. Lehnert. Bisher gab es fünf Todesfälle im Norden. Ganz vorsichtigen Optimismus schöpft Lehnert daraus, dass sich die Zahl der Neuerkrankungen zumindest zu stabilisieren scheint.
Die Zahl der Blutspender hat sich am Dienstag verdoppelt. Fast 400 Freiwillige meldeten sich in den Blutspendezentren des Uniklinikums in Kiel und Lübeck. Die Behandlung erfordert große Mengen an Blutplasma. Für den Plasma-Austausch bei einem HUS-Patienten werden täglich zehn Blutspender benötigt.
Wegen der vielen Fälle im Land kommen laut Gesundheitsministerium weitere medizinische Fachkräfte aus anderen Bundesländern in den Norden. Dies hätten am Mittwoch mehrere Länder zugesagt, hieß es. Das Ministerium wies erneut darauf hin, dass der EHEC-Erreger durch Schmierinfektion übertragen werden kann. Daher müsse die Händehygiene besonders gründlich beachtet werden, besonders bei Kontakt zu Erkrankten. Auch die vorsorgliche Empfehlung, keine rohen Tomaten, Salatgurken und Blattsalate zu essen, gelte weiter.