Geesthacht. Moderne Forschung und Reste von Europas größter Dynamitfabrik – auf dem Krümmel gibt es beides. Und einige Kuriositäten zu entdecken.
Auf dem Gelände der früheren Dynamitfabrik Nobel AG auf dem Krümmel bei Geesthacht – in seiner größten Ausdehnung 242 Hektar oder 339 Fußballfelder groß – standen früher einmal über 750 Gebäude. 539 davon wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten gesprengt oder abgetragen. Die Ruinen sind noch überall auf dem Areal zu finden.
Auf einem Teil der früheren Dynamitfabrik hat heute das Helmholtz-Zentrum Hereon (HZG) seinen Sitz. Unter dem Titel „High Tech und Ruinen“ führen der Förderkreis Industriemuseum Geesthacht und das HZG über das Gelände und kombinieren einen spannenden geschichtlichen Vortrag mit der Arbeit der Wissenschaftler von heute.
Ehemalige Dynamitfabrik: Führung zu „High Tech und Ruinen“
Ohne Anmeldung gelangt hier niemand aufs Gelände. Die gut zwei Stunden lange Führung mit Reinhard Parchmann vom Förderkreis Industriemuseum und Patrick Kalb-Rottmann vom Helmholtz-Zentrum beginnt an der Zufahrt zum abgesperrten Forschungszentrum. Ab 1956 hieß es Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt (GKSS). 2010 wurde es zum Helmholtz-Zentrum, seit 2021 trägt es seinen heutigen Namenszusatz. Hereon steht dabei für Helmholtz, Resilienz (Anpassungsfähigkeit) und Innovation.
Unter den jeweils bis zu 25 Besuchern waren diesmal auch André und Sirkka Reyelt aus Schwarzenbek. „Der Titel ,High Tech und Ruinen’ hat uns gereizt. Uns interessiert besonders die Geschichte hinter den Ruinen. Wir waren auch schon mal beim alten Krümmeler Wasserturm“, sagt André Reyelt.
Von wegen Metall: Versorgungstonne aus Kunststoff
Erster Stopp ist an einer alten, rostigen Feuertonne. „Was für ein Material ist das wohl?“, will Reinhard Parchmann wissen. Ein älterer Herr klopft mit seinem Spazierstock drauf. Das Geräusch ist dumpf. Klar ist: Es kann kein Metall sein. „Das ist einer der ersten Kunststoffe aus mehreren gepressten Lagen Papier und Phenolharz. Ähnlich wie beim Trabi“, erzählt Parchmann den erstaunten Zuhörern.
Es handelt sich um die Reste einer Versorgungsbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, mit der eingeschlossene Soldaten mit Munition und Nahrung aus der Luft per Fallschirm versorgt wurden. „Die Metalle wurden im Krieg anderweitig benötigt“, erklärt Parchmann.
Bei der Munitionsfabrik waren die Tonnen an allen Ecken in der Erde eingegraben. Arbeiter sollten in ihnen im Falle eines Luftangriffs vor Granatsplittern geschützt sein. Heute werden diese Hinterlassenschaften immer mal wieder bei Bauarbeiten gefunden.
Auf dem Krümmel erfand Alfred Nobel das Dynamit
Doch der Reihe nach: 1865 hatte der schwedische Chemiker und Erfinder Alfred Nobel auf dem Krümmel, wie man sagt, weil es sich um eine Gebietsbezeichnung handelt, Land gekauft und ein Jahr später hier das Dynamit erfunden. „In Schweden hatte er wegen seiner gefährlichen Forschung keine Lizenz dafür bekommen“, berichtet Parchmann.
Ungefährlicher wurde es auch an der Elbe nicht. Die erste Fabrik explodierte bereits nach einem halben Jahr. Die Zahl der Toten durch Unfälle bis zur Schließung 1945 geht in die Hunderte, obwohl es eine eigene Berufsfeuerwehr gab. Die damalige Feuerwache ist heute die Waldschule Grünhof. Die Giftstoffe waren für die Arbeiter zudem gesundheitsgefährdend – als äußere Zeichen trugen viele gelbe Fingernägel und rote Haare davon.
Gleichwohl eignete sich die Landschaft am Elbhang durch ihre eingeschnittenen Täler für die Sprengstoffproduktion. Wenn eines der Gebäude, die verteilt im Gelände lagen, explodierte, kam es wenigstens nicht zu einer Kettenreaktion. Zudem durften sich nur wenige Personen gleichzeitig in ihnen aufhalten.
Dreistöckiges Kraftwerk im Geesthang versteckt
Mit dem Dynamit gelang der Bau von Eisenbahnlinien quer durch die USA oder Tunneln durch die Alpen. Natürlich wurde es auch militärisch genutzt. 1910 war Krümmel die größte Sprengstofffabrik Europas mit 600 Mitarbeitern. Im Ersten Weltkrieg waren es dann 2750, im Zweiten Weltkrieg sogar 9000 Arbeitskräfte, darunter zahlreiche ausländische Zwangsarbeiter und Frauen.
Damit die Gebäude vor neugierigen Blicken der Feinde aus der Luft geschützt waren, wurden die Dächer meist begrünt, die Fassaden angemalt und die Dachkanten so konstruiert, dass sie keinen Schlagschatten warfen. Besonders imposant: An der Elbuferstraße zwischen Krümmel und Tesperhude liegt versteckt im Geesthang ein dreistöckiges Steinkohle-Kraftwerk, dessen Schornsteine zur Sicherheit einerseits nicht direkt über dem Kraftwerk lagen und sich zudem wie das Periskop eines U-Bootes einfahren ließen. „Alles zur Tarnung. Zusätzlich hat man auch manchmal künstlich Nebel erzeugt“, erklärt Parchmann.
Dynamitfabrik mit 43 Kilometern Schienennetz
Im Zweiten Weltkrieg maß das Schienennetz auf dem Gelände 43 Kilometer, es gab zwölf Loks. Die eigene Hafenanlage ist seit dem Bau des Wehres bei Geesthacht nicht mehr sichtbar. Das älteste erhaltene Gebäude auf dem Gelände mit der Nummer 255 wurde im Ersten Weltkrieg im Rahmen des Hindenburg-Programms errichtet und steht heute unter Denkmalschutz. Früher war es eine Nitrocellulose-Fabrik, nach 1945 dann Heimat der Radar-Hydrografie und dient heute als Lager.
Auf dem Helmholtz-Gelände ist übrigens auch der Reaktor des atombetriebenen Forschungsschiffes „Otto Hahn“ der GKSS neben einer Halle für schwach radioaktive Abfälle tief in der Erde vergraben. Für die Anlieferung des 480 Tonnen schweren Ungetüms wurde übrigens extra die fast schnurgerade Zufahrtsstraße von der B5 gebaut. Bevor es die Max-Planck-Straße gab, erfolgte die Zufahrt zur GKSS über eine kurvige, enge Straße aus Tesperhude.
Helmholtz-Zentrum: Leichte Magnesium-Legierungen wurden hier entwickelt
Die geschichtlichen Beiträge und die zum heutigen Schaffen wechseln sich auf der Führung „High Tech und Ruinen“ ab. Patrick Kalb-Rottmann, zuständig bei Helmholtz für Kommunikation und Medien, berichtete etwa über die Materialforschung. So wurden Magnesium-Legierungen entwickelt, die ein Drittel leichter als andere Stoffe sind und in Autos verbaut werden.
Das gleiche Magnesium wird auch bei gebrochenen Fingern den Patienten zur Stabilisierung eingepflanzt. Vorteil: Das Magnesium löst sich von alleine im Körper auf. Kalb-Rottmann erzählte auch von der Forschung an Wasserstoffantrieben, neuen Schweißverfahren (Rührreibschweißen) oder der Klimaforschung. „Wenn die Erderwärmung bei 1,5 Grad bleibt, wird das Nordpolarmeer künftig alle 100 Jahre einmal eisfrei sein, schon bei 2 Grad ist es alle zehn Jahre einmal eisfrei“, sagte Kalb-Rottmann, der von Haus Meteorologe ist.
Förderkreis Industriemuseum bietet verschiedene Führung an
Fünfmal jährlich lädt er mit Reinhard Parchmann zur Führung „High Tech und Ruinen“ ein. Die Termine sind immer in der kalten Jahreszeit, wenn die Ruinen nicht vom Blattgrün verdeckt werden. Die letzte Führung vor der Sommerpause am 1. April ist ausgebucht, weiter geht es wieder im Herbst.
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Wer solange nicht warten will: Der Förderkreis Industriemuseum bietet den Sommer über noch drei weitere thematische Führungen an. Sie heißen „Auf den Spuren Alfred Nobels“, „Deutsches Pulver für die Welt“ und „Pulver, Plastik und Raketen“. Die Termine stehen auf der Homepage industriemuseum-geesthacht.de veröffentlicht, dort sind auch die Infos zur Anmeldung.
Neben der Dynamitfabrik in Krümmel gab es in Geesthacht auch die Düneberger Pulverfabrik. Zur Unterscheidung: Im Krümmel wurde der Sprengstoff für Granaten hergestellt, in Düneberg das Material, das das Geschoss aus dem Abschussrohr treibt.