Die “Keziban“-Bilanz in Norddeutschland: Versorgungsengpässe auf Hiddensee und Hooge, Notzeit für Wildtiere und zu wenig Streusalz.
Itzehoe/Kiel. Der Hafen der Ostseeinsel Hiddensee ist tief verschneit, die Fahrrinne ist seit vier Tagen zugefroren. Die Fähre „Vitte“, einzige Verbindung zur Außenwelt, liegt seit Freitag mit einem Maschinenschaden im Hafen von Schaprode auf Rügen fest. Die Insel mit vier Dörfern, rund 1050 Hiddenseern und ihren Urlaubern ist seitdem abgeschnitten.
Im Edeka-Markt in Vitte gibt es inzwischen keine Kartoffeln, keine Eier, keine Butter und kein frisches Obst und Gemüse mehr. Die letzte Lieferung von frischen Lebensmitteln erreichte die Insel am vergangenen Mittwoch. Konserven seien noch vorhanden, hungern muss daher keiner auf der Insel, beruhigte Marktleiter Horst Sachse. Auch in der Hotelanlage „Godewind“ ist die Stimmung inzwischen angespannt - weil in Berlin die Winterferien begonnen haben.
„Eigentlich sollten seit Sonnabend zehn Ferienwohnungen belegt sein, Hotelzimmer waren gebucht“, sagt Inhaber Thomas Meinhof. Die Wohnungen blieben leer. „Die Verluste tragen wir.“ Der Höhepunkt der Wintersaison gestaltet sich in diesem Jahr als Flaute und das, obwohl sich die Insel von ihrer schönsten Seite zeigt: Bis zu zwei Meter hohe Schneewehen türmen sich auf dem Eiland: Dünen, Strand und Reetdachhäuser sind alle weiß gepudert.
Inselärztin Ute Karweg berichtet inzwischen von Patienten, die sich wegen der Lage erste Sorgen machen. „Wir haben Vorräte von Insulin und Blutdruckmedikamente angelegt“, sagt die Ärztin. Die medizinische Versorgung sei also gesichert. Wichtig sei es, den Patienten in Gesprächen die Ängste zu nehmen. Die Politik sollte wahrnehmen, dass Hiddensee die einzige größere Insel vor der deutschen Ostseeküste ist, die nur über den Wasserweg erreichbar ist, appelliert Karweg an die Entscheidungsträger.
Der frühere Bürgermeister von Hiddensee und jetzige FDP-Landtagsabgeordnete Gino Leonhard hat sich inzwischen beim Landesverkehrsministerium beschwert. Offenbar habe der Druck des Ministeriums auf das für die Eisbrecher zuständige Wasser- und Schifffahrtsamt in Stralsund etwas bewirkt, sagte Leonhard.
Das Bundesamt wolle laut Leonhard den Eis brechenden Tonnenleger „Ranzow“ in Richtung Hiddensee schicken. Dort wird er am Abend erwartet, um das Eis in der Fahrrinne zu brechen und Lebensmittel auf die Insel zu schaffen.
Bürgermeister Manfred Gau will sich nicht darauf verlassen, dass das Spezialschiff den Weg durch das Eis schafft. Vorsorglich sei eine Versorgung aus der Luft beantragt. Für Dienstag sind erneute Sturmböen und starke Schneefälle angesagt. Nach Angaben von Stefan Kreibohm vom Wetterdienst Meteomedia könnte der Sturm an der Ostseeküste in Spitzen Stärke acht, teilweise neun erreichen. Dann dürfte es selbst für Hubschrauber problematisch werden, die Insel zu erreichen.
Seenotkreuzer für Hooge
Die nordfriesischen Halligen sind wegen des anhaltenden Eisgangs im Wattenmeer weiterhin nur schwer zu erreichen. Voraussichtlich an diesem Dienstag soll der Seenotrettungskreuzer „Vormann Leiss“ von der Insel Amrum aus versuchen, zur Hallig Hooge durchzukommen. Am Sonnabend musste das Schiff „Rüm Hart“ rund 100 Meter vom Anleger entfernt aufgeben, berichtete Bürgermeister Matthias Piepgras.
Die letzte Versorgungsfahrt durch das Eis hatte es am vergangenen Donnerstag gegeben. Ein Grund für den neuen Versuch ist, Gäste nach dem Ende ihres Urlaubs zurück aufs Festland zu bringen. Die Halligbewohner seien gut mit Lebensmitteln versorgt. „Nur frisches Brot wird langsam knapp“, sagte Piepgras.
Notzeit für Wildtiere ausgerufen
Nicht nur die Menschen auf Hiddensee warten auf frische Lebensmittel, auch vielen wildlebenden Tieren im Norden geht die Nahrung aus. Schuld ist die dicke Schneedecke, wegen der Rehe, Hirsche, Hasen, aber auch Eulen, Falken und Wasservögel nichts mehr zu fressen finden. Der Kreis Herzogtum Lauenburg hat deshalb am Montag die sogenannte Notzeit für Wildtiere ausgerufen. Dort dürfen Jäger jetzt Heu, Kastanien und Eicheln für das Wild auslegen, damit die Tiere ihren Hunger stillen können.
„Das ist das erste Mal seit der Änderung des Landesjagdgesetzes im Jahr 1999, dass wir diese Diskussion haben“, sagte Böhling. Für den Leiter des Hegelehrreviers Grönwohld des Landesjagdverbandes, Christopher von Dollen, ist die Ausrufung der Notzeit für Wildtiere eine notwendige Maßnahme.
„Das Wild versucht, auf den Feldern mit seinen Hufen den Schnee wegzukratzen, um an Saaten zu gelangen. Dabei führt die verharschte Schneedecke oft zu Verletzungen an den Hufen, die die Tiere zusätzlich schwächen“, erläuterte von Dollen. „Ich habe in meinem Revier bereits ein verendetes Reh gefunden, das stark abgemagert war“, sagte er. In einigen Kreisen Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs war bereits am Wochenende die Notzeit für Wildtiere erklärt worden.
Auch Greifvögel und viele Singvogelarten leiden Hunger. „Betroffen sind zum Beispiel Grasmücken, Heckenbraunellen und Rotkehlchen, die wegen der milden Winter der vergangenen Jahre nicht mehr in den Süden gezogen sind. Aber auch Wintergäste aus Skandinavien, wie Rot- und Wacholderdrosseln sind inzwischen extrem geschwächt, weil alle Beeren tragenden Sträucher mittlerweile kahlgefressen sind“, sagte der Pressesprecher des Naturschutzbundes (Nabu) Schleswig-Holstein, Ingo Ludwichowski.
„Bei einigen Arten, wie zum Beispiel Eisvögeln oder Zwergtauchern, wird es mit Sicherheit Bestandsverluste geben. Andere profitieren dagegen von der Witterung. Seeadler halten sich jetzt zum Beispiel bevorzugt an Eislöchern auf und machen dort Jagd auf geschwächte Wasservögel“, sagte Ludwichowski.
Einkaufszentren werden geschlossen
Die Schneemassen treiben auch Managern von Einkaufszentren in Mecklenburg-Vorpommern die Sorgenfalten auf die Stirn. So wurden und werden wegen der hohen Schneelasten die Dächer von vier Einkaufscentern in Greifswald, Rostock, Schwerin und Neubrandenburg von der weißen Pracht beräumt. Trotz der bis zu einem Meter dicken Schneeschicht öffneten der Elisen-Park in Greifswald, das Sieben-Seen-Center in Schwerin, der Ostsee-Park Sievershagen bei Rostock und das Bethaniencenter in Neubrandenburg.
„Wir sind schon seit Tief 'Daisy' regelmäßig dabei, die 45000 Quadratmeter Fläche zu räumen, sonst verpasst man den Anschluss“, sagte Centermanager Ralf Müller in Neubrandenburg. Deshalb sei der Bau auch sicher. Probleme gebe es inzwischen eher mit dem vielen Schnee auf dem Parkgelände, der zum Teil schon abgefahren werde.
In Schwerin, wo der Bau rund 300 Meter lang ist, und in Greifswald hatten die Einkaufszentren schon am Sonntag mit Unterstützung des Technischen Hilfswerkes mit der Räumung der Dächer begonnen und setzten dies am Montag fort. „Soviel Schnee hatten wir noch nie“, sagte ein Sprecher in Greifswald. In Sievershagen, wo am Wochenende am meisten Schnee fiel, sollte am Montag das Dach beräumt werden. „Wir können aber weiter öffnen“, sagte eine Sprecherin. Anders als am Samstag, wo man früher eher schließen musste, weil auf dem Parkplatz kein Durchkommen mehr gewesen sei.
Bahnverkehr stark eingeschränkt
Schneeverwehungen hatten am Morgen den Bahnverkehr in Mecklenburg-Vorpommern streckenweise lahmgelegt. Betroffen waren die Bahnstrecken Demmin-Neubrandenburg, Pasewalk-Stettin, Wismar-Bad Doberan-Rostock-Tessin, Schwerin-Rehna, Güstrow- Neubrandenburg-Pasewalk und Stralsund-Velgast-Barth. Zahlreiche Züge fuhren überhaupt nicht, auch Ersatzbusse konnten wegen der schwierigen Straßenverhältnisse nur zum Teil eingesetzt werden. Auch auf anderen Strecken kam es zu Verspätungen oder Ausfällen. In Rostock fällt die S-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Seehafen aus. Zunächst hatte es seitens der Bahn geheißen, die Strecke Hinrichsdorfer Straße-Seehafen werde nicht bedient.
Die Autobahnen, Bundesstraßen und Landstraßen sind weitgehend vom Schnee geräumt. Dort lief der Verkehr nach Angaben des Lagezentrums der Polizei in Schwerin normal. Probleme gebe es auf Nebenstraßen. Dort sei nun aber de Winterdienst im Einsatz, um die Fahrbahnen von Schnee zu befreien. In Sassnitz musste am Morgen der öffentlichen Personennahverkehr eingestellt werden. Dort waren mehrere Lastwagen stecken geblieben.
Neumünster: Leichenfund im Eis
Einen grausigen Leichenfund gab es in der Nähe von Neumünster: Dort hatte ein Mann seine eigene Mutter tot in einem zugefrorenen Tümpel aufgefunden. Der Hund der Frau hatte bei der Leiche ausgeharrt und bellend auf sie aufmerksam gemacht. Nachbarn hatten gesehen, wie die 65-jährige allein lebende Witwe am Freitagabend mit ihrem Hund Spazieren gegangen war. Erst am Samstagnachmittag hatte der Sohn seine Mutter dann gefunden.
Wie die Frau ums Leben kam, ermittelt nun die Kriminalpolizei Neumünster. „Es gibt bisher keinen Hinweis auf ein Verbrechen“, sagte ein Polizeisprecher. Am Fundort waren neben den Kripo-Beamten auch Einsatzkräfte der Feuerwehr, die die Tote vorsichtig aus dem Eis holen mussten. Wehrführer Heinrich Kühl sagte dem Bericht zufolge, dass die Frau „vollständig bekleidet“ gewesen sei.
Schifffahrt: Probleme nur für kleine Schiffe
Auf die Seeschifffahrt in Norddeutschland hat der seit Wochen dauernde Eiswinter bislang kaum Auswirkungen. In Deutschlands größtem Seehafen Hamburg halten Eisbrecher der Hafenbehörde HPA die bis zu 30 Zentimeter dicken Schollen in Bewegung.
Auf der Nord- und Ostsee sowie auf dem Nord-Ostsee-Kanal sind nach Angaben der Wasser- und Schifffahrtsämter (WSA) bislang keine Eisbrecher nötig. „Die Schiffe kommen mit eigener Kraft durch und halten das Eis in Bewegung“, sagte der Sprecher des WSA Lübeck, Mathias Fiege. „Wegen der relativ milden Temperaturen friert es auch nicht wieder zusammen.“
Probleme mit dem Eis hätten bislang nur Schiffe mit Holzrumpf oder kleine Schiffe und Fischkutter, sagte Fiege. So mussten im Husumer Hafen die beiden Frachter „Ilka“ und „Maike“ mit dem Auslaufen warten, bis ein Eisbrecher ihnen eine Fahrrinne frei machte. Der Vorhersage zufolge wird sich das Winterwetter mit Minusgraden in der Nacht und Temperaturen um den Gefrierpunkt am Tag fortsetzen.
Schleusen: 20 Zentimeter dicker Eisschollen
Auf dem Nord-Ostsee-Kanal (NOK) sorgen WSA-Mitarbeiter für einen reibungslosen Verkehr, sagte Sprecher Thomas Fischer am Montag in Brunsbüttel (Kreis Dithmarschen). Die knapp 100 Kilometer lange künstliche Wasserstraße quer durch Schleswig-Holstein wird von 42000 Schiffen im Jahr benutzt. Der dichte Verkehr hat bislang die Bildung einer geschlossenen Eisdecke verhindert.
Probleme bereiten die bis zu 20 Zentimeter dicken Eisschollen jedoch an den Schleusen. Wenn die Schiebetore geschlossen werden, „tanzt“ deshalb ein Schlepper vor ihnen herum. Er spült mit den Wellen seines Schraubenwassers die Eisschollen weg.
Die vier Schiffe der Elbfähre Glückstadt-Wischhafen fahren zurzeit wegen des Eisgangs nicht. Auch der Fährverkehr zu den Inseln und Halligen wurde bis auf weiteres eingestellt. Dort hatte sich das Eis vor den Anlegern zuletzt derart gestaut, dass die Fähren nicht mehr bequem über eine Rampe entladen werden konnten, sondern Lebensmittel und andere Güter per Hand an Land gebracht werden mussten.
Schäden durch Eisgang und Frost
In Hamburg dauert der Eiseinsatz mittlerweile 26 Tage. Damit ist der letzte starke Eiswinter aus dem Jahr 1997 mit 35 Einsatztagen aber noch nicht erreicht. Nachdem am Wochenende drei vorübergehend stillgelegte Frachtschiffe von den Norderelbpfählen in Hafenbecken verlegt wurden, kann das Eis in der Norderelbe besser abfließen, wie HPA-Sprecherin Karin Lengenfelder sagte. „Das hat sich gut bewährt, damit ist ein Engpass beseitigt.“
In Hamburg haben Eisgang und Frost inzwischen auch schon einige Schäden angerichtet. So trieben am Wochenende zwei losgerissene Pontons bei den Norderelbbrücken mit den Schollen auf dem Fluss. Sie konnten eingefangen und festgemacht werden, sagte Lengenfelder. Mehrere Boote schlugen leck, und zwei Binnenschiffe rissen sich los. In der Billwerder Bucht sank ein nicht mehr genutztes Schiff. Auf der Werft „Jugend in Arbeit“ in Harburg drohte ein Boot zu sinken.
Verkehrschaos wegen Eisglätte
Auf der Straße haben Schneefall und überfrierende Nässe in Schleswig-Holstein für massive Verkehrsbehinderungen gesorgt. „Es ist im ganzen Land glatt“, sagte ein Sprecher des Lagedienstes in Kiel. Schwere Unfälle gab es zunächst nicht, es kam lediglich zu Blechschäden. Auch in der Landeshauptstadt sorgten die rutschigen Straßen am Abend für ein Verkehrschaos, eine Verbindungsstraße in der Innenstadt musste gesperrt werden.
Die Polizei Itzehoe hatte am Morgen gewarnt, viele Straßen seien schlecht gestreut. In Itzehoe kam der Berufsverkehr auf den spiegelglatten Straßen fast zum Erliegen. Lastwagen kamen an leichten Steigungen nicht voran. Auch in Flensburg rief die Polizei Lkw-Fahrer dazu auf, einige Strecken zu meiden. In den Kreisen Dithmarschen und Steinburg rutschten mehrere Fahrzeuge in den Graben. Auf der Autobahn
Streusalz geht zur Neige
23 schlitterten Wagen gegen die Leitplanke. Auch hier blieb es meist bei Blechschäden. Unterdessen werden in mehreren Kommunen die Salzvorräte knapp. In Hamburg streckt die Stadtreinigung das Streusalz mit Sand, um die letzten Reserven zu schonen. „Wir mischen 25 Prozent Salz in den Sand“, sagte der Sprecher der Stadtreinigung, Reinhard Fiedler, am Montag. Der Salzberg in den 12000 Tonnen fassenden Lagerhallen war am Vormittag auf nur noch 700 Tonnen zusammengeschmolzen. „Der Sand hat abstumpfende Wirkung“, sagte Fiedler.
Salznachschub ist erst für die kommende Woche zu erwarten. Zwei Schiffe seien auf dem Weg. Andere Bezugsquellen sind nicht in Sicht. „Es ist absolut kein Salz mehr auf dem Markt.“ Auch die Wetteraussichten versprechen noch keine Entspannung: Das Winterwetter soll weitergehen.